Jahresserie "Beste Freunde": Brieffreundschaft

Bekenntnisse einer Brieffreundin

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Brieffreundschaften sind nicht von gestern, sondern machen Freude auf besondere Art: Bekenntnisse einer Brieffreundin. Von Ruth Lehnen


Herzensergießung: Ein Brief, mit Tinte geschrieben, kann Gefühle transportieren und Freundschaft.


Liebe Leserin, lieber Leser,

es ist früher Morgen, fast noch dunkel, aber die Amsel singt schon: die beste Zeit zum Briefeschreiben. Der Geist ist noch ganz frisch und das Alleinsein fühlt sich gut an, nicht so wie am späten Nachmittag, es ist ein willkommenes Alleinsein. Ich schreibe Ihnen heute einen Brief! Denn ich bin eine Brieffreundin.  
Zum Briefeschreiben brauche ich nicht viel, oder doch viel, genau das: Ruhe, Alleinsein, weißes Papier, am besten einen Kaffee und das beste aller Schreibgeräte, meinen Füller. Wenn mit dem Füller etwas nicht stimmt, wie neulich, als die Tinte nicht richtig geflossen ist, ist mir das ganze Briefeschreiben vergällt.

Die Tinte soll fließen wie die Gedanken. Weil ich Tinte und Füller so gern mag, und ich darin so schrecklich altmodisch geworden bin – das heißt, ich war schon immer so, nur die Zeiten sind andere geworden – muss ich immer an die Gebrüder Grimm denken. Genau, an die mit den Märchen und mit dem Wörterbuch. In der „Grimmwelt“ in Kassel können Sie ein riesiges Tintenfass sehen. Dort hat man versucht, zu imaginieren, wieviel Tinte die Brüder verschrieben haben im Laufe ihres Lebens als Briefeschreiber. Das Tintenfass  ist so groß wie ein Bottich. Und an der Wand gibt es eine Karte mit den Orten, an denen die Korrespondenzpartner der Brüder  lebten, weit verbunden wie ein Netzwerk, beeindruckend. Forscher nehmen an, dass sie mehr als 20 000 Briefe geschrieben haben.  
Aber was sollten sie auch machen, die Grimms, sie mussten mit Tinte schreiben, denn es gab keine Schreibmaschinen, es gab keine Computer, keine E-Mails, kein Telefon, kein Handy und kein WhatsApp. Es gab Briefe.  Mich wundert es nicht, dass Jacob Grimm sich von Wörtern umgeben sah wie von Flocken im Schneegestöber.

Handgeschriebene Briefe
Ruhe, Alleinsein, weißes Papier, am besten einen Kaffee und das beste aller
Schreibgeräte, der Füller... Foto: Ruth Lehnen

Wikipedia ist da viel schnöder. Ein Brief sei „eine auf Papier festgehaltene Nachricht, die eine persönliche Botschaft überbringt.“ Und: „Der Brief ist ein Kulturprodukt.“  
Oha! Ich finde ja, dass der Brief so viel mehr ist! Erstmal ist er meist ein liebender oder zumindest wohlwollender Gedanke, manchmal allerdings auch ein wütender, denn die meisten Briefe werden im Kopf geschrieben, bevor sie auf dem Papier landen: Was will ich, wie soll ich das ausdrücken – so beginnt der Brief im Kopf.  
Dann ist das Briefschreiben ein kreativer Prozess, denn der Brief kommt nie so raus, wie er gedacht war, sondern verändert sich beim Schreiben, weshalb das Schreiben ja auch so viel Spaß macht. Und schließlich lässt der Brief die Zeit stillstehen: Wer Briefe schreibt, nimmt sich Zeit, für sich selbst und für den anderen.

Briefe schreiben heißt, sich selbst kennenzulernen, wie es  vor allem die Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts uns vorgemacht haben. Was sie „Herzensergießung“ nannten, ist nichts anderes als das Erforschen und Betrachten der Gefühle, und das wird schriftlich dokumentiert, aber noch mehr als das, es passiert im Schreiben.  
Sie warten jetzt sicher schon ungeduldig, dass ich vom „Lob des Briefeschreibens“ zum Thema Brieffreundschaft komme. Denn dieser Brief, den Sie hier lesen, ist ja so absichtslos nicht, sondern erscheint in der Jahresserie „Beste Freunde“.

Also gut: Der Brief ist eine Bewegung zum Du. Das Gegenüber im Kopf und im Herzen lassen auch manchen Brief so schwer werden. Es gibt den zerrissenen Brief, den unabgeschickten, den verbrannten Brief. Aber es gibt auch den sehnsüchtig erwarteten, freudig aufgerissenen, den am Herzen getragenen Brief. Die höchste Kunst ist der Liebesbrief, aber es gibt auch Briefe der Freundschaft und Brieffreundschaften.  
Wieso heute noch Brieffreundschaft pflegen? Meine Brieffreundin Ulrike Flitner und ich werden öfters belächelt, weil wir uns noch immer Briefe schreiben. So wie manche Leute nicht verstehen, dass man sich um fast ausgestorbene Haustierrassen kümmert. Weil sie schön und divers sind! Weil sie Schutz brauchen und Menschen, die sie verteidigen!  
Meine Brieffreundin wohnt 400 Kilometer weit weg, und natürlich schreiben wir uns auch WhatsApp und telefonieren. Aber einen Brief von Ulrike zu bekommen, in ihrer charakteristischen, nach links geneigten Schrift, ist eine Riesenfreude. Ich reiße einen solchen Brief nicht gleich auf, sondern warte, bis der Moment gekommen ist, bei einer Tasse Tee in Ruhe zu lesen, was sie schreibt. Sie schreibt über ihre Familie, über ihre Arbeit, über ihre Sorgen, über die Pandemie. Sie schreibt über Pläne und übers Älterwerden, und fast jedes Mal berichtet sie, was sie gelesen hat, welche Bücher sie mir empfiehlt und von welchen sie abrät. Ihre Briefe sind eine wunderbar gelungene Mischung aus Gefühlsmitteilungen und ihrem oft humorvollen Blick auf ihre Umwelt und sich selbst, so dass ich immer meine, mit ihrem Brief die ganze Frau vor mir zu haben. Ich antworte auf Themen, die sie anspricht, berichte von meinem Leben, schütte auch mal Frust aufs Papier – und so gehen die Briefe hin und her, im gemächlichen Abstand von ein bis zwei Monaten.

Oft schicken wir uns auch Postkarten, mehrere, vollgeschrieben, von Orten, an denen wir waren, von Kunstwerken, die wir gesehen haben. Und die eine nimmt Anteil an der anderen und ihrem Leben.

Warum sollten wir darauf verzichten, nur weil es jetzt schnellere Formen der Kommunikation gibt? Warum sollten wir uns nicht bewusst fürs Langsame entscheiden?  
Und Briefe bleiben. Wie in kleinen Zeitkapseln ist in ihnen die Stimmung aller Jahre beschlossen. Das macht es so anrührend, in alten Briefen zu lesen. Ja, da waren die Kinder noch klein, ja, diese Krankheit, Gott sei Dank, wurde überwunden, ja, da bin ich auch gewesen, das hätte ich beinahe vergessen ... so geht es einem beim Lesen alter Briefe!

Ich weiß nicht, worin die kommenden Generationen stöbern werden, in Dateien? Ich mag das Rascheln von Papier, das Betrachten der Briefmarken, – so gering war damals das Porto! – und wenn aus einem Brief eine alte gepresste Blume fällt.  
Brieffreundschaft ist eine „Kulturtechnik“, die so langsam in Vergessenheit gerät. Aber das macht ja nichts. Mir hat sie viel gegeben, gibt sie viel, und ich bleibe dabei.  
Und nachher schau ich in den Briefkasten, vielleicht ist ja ein Brief gekommen, ein echter Brief, wäre das nicht schön?  
Es grüßt Sie herzlich Ihre Brieffreundin  
Ruth Lehnen

P.S. Kein Brief ohne P.S. – Postscriptum, das, was nach dem Geschriebenen kommt. Vielleicht haben Sie ja auch Lust, mal wieder zum Stift zu greifen? Es muss ja nicht gleich ein Brief sein. Vielleicht ist es eine Postkarte, vielleicht auch nur ein Zettelchen für den Liebsten (oder die Liebste). Ein winzig kleines Schriftstück, zum Aufbewahren.

 

 

Zur Sache

Interview – per Brief geführt

Brieffreundinnen
Ruth Lehnen und Ulrike Flitner Foto: privat

Eine langjährige (Brief-)Freundschaft verbindet Ruth Lehnen mit Ulrike Flitner. Klar, dass sie sich auch per Brief über das Thema Brieffreundschaft ausgetauscht haben.  
Frage: Ulrike, warum schreibst Du immer noch Briefe?

Ulrike Flitner: Ich schreibe immer noch Briefe, um mein Denken vor mir zu sehen und es zu durchleuchten. Ich schreibe immer noch Briefe, weil ich gerne an „den Briefempfänger“ denke und mit ihm/ihr im Austausch stehen möchte. Ein geistiges Gegenüber, dem ich berichte. Das ist anders als im Gespräch. Beides ist wichtig, man kann das eine aber nicht durch das andere ersetzen.

Was machst Du mit den Briefen?  
Ich bewahre Briefe immer auf. Nach ein paar Jahren schmeiße ich die weg, die nicht sooo wichtig waren, aber ich behalte auch viele, weil sie Teil der Person sind, von der sie kamen. Diese Person schmeiße ich ja auch nicht weg.

Gibt es etwas, das für Dich besonders wichtig ist beim Briefeschreiben?

Ich glaube, dass man beim Briefeschreiben immer offen sein soll. Geht etwas anderes überhaupt bei einem „richtigen“ Brief? Alles andere wäre doch eine literarische Übung. Und man braucht Zeit für einen Brief, das ist nicht wie eine WhatsApp. Die Gedanken fließen in den Stift, oder auch nicht. Das kann passieren, wenn man sich nicht bereit fürs „Öffnen“ fühlt oder alles zu hektisch ist.

Wie fühlst Du Dich, wenn Du einen Brief geschrieben hast?

Manchmal fühlt man sich danach freier und gelöster. Briefe zu schreiben ist ein sehr emotionaler Akt.

 

 

Ruth Lehnen