Ausstellung in Chemnitz würdigt Künstler Michael Morgner
Bibel-Themen sind existenziell
Michael Morgner in der Ausstellung seiner Werke in den Kunstsammlungen Chemnitz. Foto: Tomas Gärtner |
Michael Morgner beschäftigt sich in seinen Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen und Grafiken mit existenziellen Kernfragen. Am 6. April wurde der Künstler 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass zeigen die Kunstsammlungen Chemnitz bis 31. Oktober die erste umfassende Werkschau Morgners.
Im ersten Raum der Ausstellung „Lebenslinien“ empfängt der „Lebensfries“ von 1984, eine Auftragsarbeit für das Erholungsheim Schöneck (Vogtland) des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), die Besucher wandfüllend. Menschengestalten, gebeugt, hockend, in sich verkrochen, leidend oder sich erhebend, losgehend; konturiert in schwarzen Linien, umhüllt, bedrängt von Partien eines dunkel leuchtenden Blaus einfacher DDR-Latexfarbe, im Innern ausgefüllt von warm glühendem Gelb bis Orange als Gegenkraft. So verstand Michael Morgner es, die DDR-Existenz auf den bildnerischen Punkt zu bringen: Eingesperrtsein in der Geborgenheit.
Bereits in diesem ersten Raum wird deutlich, das die Ausstellung davon profitiert, dass sich Kuratorin Maria Winter gegen eine chronologische Präsentation entschieden hat. Stattdessen sind die mehr als hundert Arbeiten nach Themen geordnet.
Christliche Symbolik prägt viele Werke
Gleich zu Beginn der Werkschau sind durch den „Lebensfries“ und weitere Arbeiten schon in diesem Raum Morgners Themen beisammen: Angst, Krieg, Bedrohung durch Naturgewalten, Bedrängung durch Schicksalsschläge, das Aufstehen als großes Dennoch, das beispielsweise seine Freiheitsfigur „Schreitender“ wagt. Die Stahlskulptur empfiehlt er als Alternative zur „Wippe“ als Denkmal für die Deutsche Einheit.
Bereits hier, wie in vielen anderen Werken, begegnet einem christliche Symbolik: Kreuz und Kreuzigung, Ecce homo (den gefolterten, in purpurnes Gewand gekleideten und mit einer Dornenkrone gekrönten Gefangenen Jesus), Schweißtuch. Morgner hat immer wieder Werke für Kirchen geschaffen, beispielsweise für das evangelische Chemnitzer Bonhoeffer-Gemeindezentrum, die Kirchenfenster der katholischen St.-Josef-Kirche in Dresden oder in Kirchenräumen ausgestellt, etwa im Meißner Dom oder im Diözesan-Museum Würzburg.
Religiöse Kunst indes hat er nie geschaffen. Vielmehr prägt er religiöse Inhalte in etwas Eigenes um. Seine Bilder holen Biblisches hinein ins Existenzielle. So wird bei ihm die „Reliquie Mensch“ zu einem zentralen Motiv. „Das Kreuz ist bei mir kein christliches“, bemerkt er in der Ausstellung. „Der Mensch durchschreitet es wie einen Schicksalsweg.“
Im zweiten Raum wendet man sich Bleistiftzeichnungen zu, die seine sterbende erste Frau Dörte zeigen. Sie, wie auch die Tusche-Zeichungen daneben, holen die Betrachter ganz nah heran, ziehen sie hinein in die Verlusterfahrung. „Im Nebenzimmer hatte ich damals den Traum von einer schwarzen Madonna“, erinnert sich der Künstler. Auf einem Bild, ganz in Blau und Schwarz, ist ein riesiger Totenschädel zu erkennen; Menschen gleiten für einen Moment noch einmal nahe aneinander vorbei, um sich schließlich zu verlieren.
Auf der gegenüberliegenden Seite begegnet einem der Tod in historischer, kollektiver Dimension – in der Bombardierung seines Heimatortes Einsiedel bei Chemnitz 1945. Das ist zugleich einer seiner frühesten Kindheitseindrücke, wie Michael Morgner sagt: „Schwarze Nacht und am Himmel die ‚Christbäume‘“, Leuchtbomben also. Das Dunkel im ersten Bild wirkt wie eine Guillotine, in weiteren legt sich Asche auf die Dinge, dann ein weißes Tuch. Düster? Das mag sein. Fast alle Bilder sind so. Es ist seine Tonart existenziellen Ernstes.
Fotorealismus als Ziel der abstrakten Malerei
Ein weiteres Thema für den Künstler sind Naturdarstellungen. Es sind beispielsweise intensive Eindrücke aus der Umgebung seines Wohnortes Einsiedel zu sehen. Bei diesen Werken zeigt sich sich, dass Morgner ein hervorragender Zeichner ist. „Mein Ziel ist eine vollkommen abstrakte Zeichnung, die gleichzeitig realistisch ist wie ein Foto“, sagt er. Schmelzenden Schnee stellt er mittels Lavage dar, eine Technik, die er entwickelte. Dabei wäscht er frisch aufgetragene Tusche aus, was zarte Sepiatöne oder expressive Spritzer hervorbringt.
Die Vielfalt seiner Techniken führt er in seinen späten Bildern vor Augen. Auf denen hat er schwarzglänzend-schorfigen Asphaltlack gespachtelt, Papierschichten collagiert, mit Schablonen gemalt, aufgeklebt, abgerissen. Er trägt auf und gräbt sich in die Tiefe wie ein Archäologe. Überwältigende visionenhafte Räume voller Tiefe breiten sich in monumentaler Größe aus.
Künstlerinnen nachfolgender Generationen gestalten Morgners Themen auf eigene Weise. Besonders der bedrohten Natur widmen sie sich. Das zeigt die ergänzende Ausstellung „to leave for a place“ („zu einem Ort aufbrechen“) mit Arbeiten von Deborah Geppert, Ayala Shoshana Guy, Michelle Harder und Jana Mila Lippitz.
Die Werkschau „Lebenslinien“ ist bis 31. Oktober in den Kunstsammlungen Chemnitz am Theaterplatz geöffnet (Dienstag, Donnerstag bis Sonntag und an Feiertagen 11-18 Uhr; Mittwoch 14-21 Uhr). Ein Katalog soll bis zum Ausstellungsende erscheinen.
Von Tomas Gärtner