Nachkriegskinder: Der Roman von Schauspieler Edgar Selge
Das ist los, Edgar
Edgar Selge, ein bekannter Schauspieler, hat ein Buch geschrieben. Er hat ganz schön lange gebraucht, bis er dieses Buch schreiben konnte. Dabei erweist er sich als phänomenaler Autor: Er findet Worte für die Erfahrung der Nachkriegskinder. Von Ruth Lehnen
Es ist doch gut, dass es Zeitungen gibt und Interviews, wenn die Fragen gut gestellt sind. Und wenn jemand wahrhaftig antwortet. In „Zeit Literatur“ hat Edgar Selge, der als Schauspieler alles erreicht hat, folgendes über seinen Antrieb zum Schreiben gesagt: „Und plötzlich hatte ich den Eindruck, die Welt fragt mich: Was ist los, Edgar? Wovor schämst Du Dich? Spuck’s aus, sag’s jetzt. Und dann schrieb ich den Satz: ,Ich will nicht jemand sein, der den liebt, der ihn schlägt.‘”
Dieser Schlüsselsatz ist der Kern des Buchs, und er hat eine Pointe. Denn natürlich geht es um einen, im Buch heißt er Edgar, der seinen Vater liebt, obwohl der ihn schlägt. Und noch mehr tut, das unbegreiflich und verwerflich ist.
Edgar Selge betont, dass er nicht identisch mit diesem Kind Edgar ist. Denn der Erwachsene voller Lebens-und Welterfahrung erfindet das Kind, das er vielleicht war, im Rückblick. Es ist, sagt Selge, „das Innenleben einer Kindheit“. Und so profitiert dieses Buch von dem außerordentlichen Sprachgefühl eines berühmten Schauspielers, von seinem lebenslang erprobten Sinn für das Hinstellen von Szenen und von einem entschiedenen Willen, endlich eine der wichtigsten Erfahrungen seines Lebens auszusprechen. Spuck’s aus! Und so viele wollen es lesen, dass „Hast du uns endlich gefunden“ oben auf den Bestsellerlisten gelandet ist.
Der Vater war ein Gefängnisdirektor, der die Musik liebte
Edgar Selge erzählt von einer Kindheit mit vier Brüdern, im Haus eines Gefängnisdirektors, der die Musik liebt. Von einem bürgerlich geordneten Haushalt, unter dessen Oberfläche es brodelt. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehung und Überzeugung sind spürbar, jeden Tag. Gewalt und Entsetzen haben sich eingeschrieben in die nach außen friedlich wirkende Nachkriegsfamilie.
Ein Bruder, Rainer, ist beim Spielen im Nachkrieg vom Krieg eingeholt worden und beim Spielen mit einer Granate gestorben. Der Vater, oft liebenswert geschildert, hat eine andere Seite – die der kalkulierten Grausamkeit. Er schlägt den Sohn. „Aber ich werde es nie begreifen! Ich begreife es einfach nicht! Ich kann es nicht begreifen: Warum! Er! Mich! Schlägt!“
Das hört zwar irgendwann auf, ist aber nicht zuende
Wer das Elend des geschlagenen Kindes gültig beschrieben finden will, muss Selge lesen. Die Angst, den Schrecken, die Demütigung, die Scham. „Ich bin im Recht, doch das Gefühl, im Unrecht zu sein, beherrscht mich immer mehr.“ Und dann „Wann hört der auf? Wann ist das zu Ende?“ Darum dreht sich das Buch. Das hört zwar irgendwann auf, ist aber nicht zu Ende. Es kann ein Leben bestimmen und sogar die Beziehung zu Gott zerstören, wie Selges Schilderung eines besonderen Heiligabends zeigt.
Der Ausweg des jungen Edgar besteht im Spiel, schon lange, bevor er Schauspieler wird. Er sitzt in den Obstbäumen und macht aus Birnen Geschosse, er spielt den Bomberpiloten und den Krieg, der noch allgegenwärtig ist. Er spielt, er probiert Rollen, und er erkennt den Spieler auch in dem klavierversessenen Vater, der sich im leeren Zimmer vor imaginiertem Publikum verbeugt: „Der ist ja wie ich, schießt es mir durch den Kopf.“ Dank dieser Fähigkeit zum Spiel, zum Ausdenken der verschiedenen Rollen, ist das Buch trotz allem auch oft lustig, hat einen Sinn für schwarzen Humor und die Pointe.
Wer sich Gefühle und Gedanken anderer Menschen vorstellen kann, ist auch sich selbst gegenüber auf der Hut. Selge fragt sich: Was hat diese Kindheitsgeschichte mit mir gemacht? Er fragt sich, wovor er Angst hat und wofür er sich schämt. Der Schauspieler, der dieses Buch sein Leben lang schreiben wollte, hat ein wahrhaftiges, erschütterndes Buch geschrieben – und nicht zuletzt seinen vier Brüdern ein Denkmal gesetzt.
Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden, Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro