"Ich war ein heimatloser Aramäer ..."
Das Land der Freiheit
Welch ein wunderschöner Ausdruck: „ein Land, wo Milch und Honig fließen“. Die Formulierung macht geradezu sinnlich spürbar, welche Bedeutung das verheißene Gelobte Land für die Israeliten besaß – und noch immer besitzt.
Von Christoph Buysch
21,9 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Sie selbst oder ihre Eltern wurden nicht in Deutschland geboren. Dahinter stecken manchmal dramatische Fluchterfahrungen über tausende Kilometer, manchmal nur die Verlegung des eigenen Wohnorts über ein paar Kilometer hinweg aus finanziellen Gründen. Heimat spielt dabei für alle eine Rolle, ob es die Suche nach einer neuen Heimat ist oder der Verlust einer alten Heimat. Heimat ist der Ort, wo man sich mit allem, was einen selbst ausmacht, richtig fühlt. Verständlich, dass gerade ausgewanderte oder geflüchtete Menschen mehr als eine Heimat haben. Aber was fehlt einem eigentlich, wenn man gar keine Heimat hat?
Die Lesung des heutigen Sonntags aus dem Buch Deuteronomium handelt von solchen Gedanken. Während des Erntedankfestes am Jerusalemer Tempel wird an das erinnert, was das Volk Israel geschichtlich mit seinem Gott verbindet. „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer …“ Einsamer und verlassener kann es kaum klingen. Doch natürlich ist die Geschichte Israels hier nicht zu Ende. Im Gegenteil: Dieser Heimatlose wandert nach Ägypten aus, wird dort zu einem großen Wir, dem Volk Israel, was in Ägypten unterdrückt, entrechtet und versklavt wird, dann aber zu seinem Gott findet und von ihm in die Freiheit und in das Land geführt wird, in dem Milch und Honig fließen.
Babylon: schon wieder heimatlos
Und schon befindet man sich wieder in der Gegenwart des Erntedankfestes am Jerusalemer Tempel, an dem die Früchte des eigenen Landes dem Gott dieser Freiheitserfahrung zum Geschenk gemacht werden. Noch kürzer gefasst bedeutet diese Geschichte der eigenen Herkunft, dass Gott seine Gläubigen aus der Einsamkeit und der Abhängigkeit von anderen in die selbstbestimmte Freiheit geführt hat. Die Zeichen dieser von Gott geschenkten Freiheit sind das eigene Volk und das eigene Land. Und diese Zeichen sind für Israel, für das Judentum bis heute überaus prägend geblieben und geben auf unterschiedliche Weise Heimat.
Das war sogar schon so, als dieser Bibeltext vom heimatlosen Aramäer aufgeschrieben wurde. Vielleicht gab es schon lange Erzählungen, die diese Geschichte weitergaben. Aufgeschrieben und zum heiligen Text wurde sie jedoch erst, als das Volk Israel wieder einmal heimatlos war und in der Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christus in die Gefangenschaft nach Babylon entführt worden war. In diesem sogenannten babylonischen Exil vermisste man zum ersten Mal schmerzlich all das, was die eigene Identität ausmachte: Der Tempel in Jerusalem war bei der Eroberung durch die Babylonier zerstört, die ganze Jerusalemer Oberschicht nach Babylon entführt worden. Israel sollte sozusagen babylonisiert werden.
Die Größe des Gelobten Landes bleibt unklar
Das Gegenteil trat aber ein: Die Israeliten erinnerten sich an ihre eigenen Erzählungen, sahen ihren Gott nicht mehr nur als ihren eigenen Gott, sondern als Schöpfer der ganzen Welt, und lernten erstmals, auch ohne Tempel zum eigenen Gott zu beten. Viele Texte des Alten Testaments entstanden in diesen Jahren im babylonischen Exil: Gebete, Gebote und religiöse Vorschriften, aber auch traditionelle Erzählungen über die Anfänge Israels wurden aufgeschrieben. Wieder ein Volk zu werden und eine Heimat zu finden, waren die Visionen hinter diesen Geschichten, die sich historisch nicht belegen lassen. Möglicherweise stecken in ihnen aber Ortsangaben und Hinweise darauf, woher das Volk Israel tatsächlich kam, welche Nomadenstämme sich möglicherweise im Land am Jordan niederließen.
So unklar die Herkunft des Volkes Israel, so unklar ist auch die Größe des von Gott verheißenen Landes: Wird Abraham im Buch Genesis noch ein Gebiet vom Nil bis zum Euphrat versprochen, was heute einem Teil Ägyptens, Israel/Palästina, Syrien, Libanon und Jordanien entsprechen würde, reicht das Ausmaß des Gelobten Landes im Buch Numeri nur vom Libanon bis zum Toten Meer. Eine recht häufige Formel für die Ausdehnung der verheißenen Heimat lautet in den biblischen Geschichtsbüchern „von Dan bis Beerscheba“, was ungefähr dem heutigen Israel abzüglich der Landspitze bis zum Roten Meer entsprechen würde.
Palästina als eigentliche Heimat aller Juden
Es gibt noch weitere Grenzangaben in den alttestamentlichen Schriften, sie alle führen aber nicht zu mehr Klarheit. Die archäologischen Funde lassen eher ein meist noch deutlich kleineres Siedlungsgebiet vermuten. Der Traum aber von einem Land der Freiheit für dieses Volk blieb, so dass das versprochene Land zu einem wichtigen Heilsgut im Alten Testament wurde.
Somit gibt es seit dem babylonischen Exil nun die Vorstellung, dass sich in Palästina die eigentliche Heimat aller Juden findet. Natürlich hingen und hängen nicht alle Jüdinnen und Juden dieser Idee an, jedoch wurde mit dem aufkommenden Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts der Drang stärker, der Anfeindung durch Auswanderung nach Palästina zu entkommen. Politisch gibt es den Staat Israel seit 1948 wieder, in dem heute ungefähr die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung lebt.
Selbst wenn also das heutige Land Israel bei weitem nicht für alle Jüdinnen und Juden eine Heimat ist oder werden soll, so ist doch durch die Jahrtausende hindurch die Suche nach einer solchen Heimat, in der Gott sein Volk in Freiheit leben lässt, ein wesentliches Merkmal jüdischer Theologie gewesen.