Über aktuelle Bedrohungen für eine solidarische Gesellschaft
Den Menschen gerecht werden
Mechthild Gatter ist Flüchtlingsbeauftragte des Bistums Dresden-Meißen und Abteilungsleiterin des Diözesan-Caritasverbands. Mit dem TAG DES HERRN spricht sie über aktuelle Bedrohungen für eine solidarische Gesellschaft.
Großzügig und hilfsbereit: An einer Autobahnraststätte an der A4 haben Ehrenamtliche nach Beginn des Ukraine-Kriegs Neuankömmlingen einen süßen Empfang bereitet. Foto: imago / Ricardo Herzog |
Frau Gatter, in Sachsen gibt es seit Beginn des Ukraine-Kriegs viel ehrenamtliche Unterstützung für Familien, die hier Zuflucht suchen. Sie haben neulich Ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, die Welle der Solidarität könnte bald brechen. Woher rührt diese Sorge?
Schon 2015, als viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, waren es Ehrenamtliche, die Politikversagen abgepuffert haben. Trotz besserer Rahmenbedingungen beobachte ich auch jetzt beim Zuzug der Vertriebenen aus der Ukraine, dass zivilgesellschaftliches Engagement ausgenutzt wird. Ehrenamtliche verlieren längerfristig ihre Motivation, wenn sie Versäumnisse der Politik und der Behörden ausbügeln müssen. Dauerhaft sind Menschen nur dann solidarisch, wenn sie den Eindruck haben, der Staat bemüht sich um um Gerechtigkeit. SGBII-Empfänger, die schon lange in Sachsen leben, dürfen nicht aus dem Blick geraten, ebenso wie Asylbewerber und Menschen, die aus unterschiedlichsten Notlagen heraus bei uns Zuflucht suchen. Wenn wir als Gesellschaft beieinander bleiben wollen, dürfen wir Bedürftige nicht gegeneinander ausspielen.
Wie versuchen katholische Einrichtungen, allen gerecht zu werden? Wie gehen zum Beispiel katholische Kindergärten bei der Platzvergabe vor? Kommt eher die alleinerziehende Sächsin zum Zug oder die alleinerziehende Ukrainerin?
Das wird im Einzelfall entschieden. Sofern Kitas überhaupt freie Plätze haben, empfiehlt die Caritas als Dachverband, bei Anfragen grundsätzlich Offenheit zu signalisieren, aber vor einer Entscheidung abzuwägen, was für alle Beteiligten die beste Lösung ist. Um ukrainischen Kindern gerecht zu werden, braucht es ein heißes Herz, aber auch Verstand. Zu den wichtigen Voraussetzungen zählen unter anderem die Kostenübernahmezusage der Kommune, Verständigungsmöglichkeiten mit Kind und Mutter und bei traumatisierten Kindern pädagogische Fachkräfte mit der nötigen Kompetenz.
Sehen Sie die Versäumnisse, die Sie ansprechen, eher auf Seiten der politischen Entscheider oder eher dort, wo die Entscheidungen umgesetzt werden?
Wie so oft ist es eine Mischung. Besonders augenfällig sehe ich die Versäumnisse aber bei den Behörden. Natürlich habe ich volles Verständnis, dass nicht alles vom ersten Tag an funktioniert. Ich weiß auch, dass viele Behörden zurzeit ähnliche Personalprobleme haben wie die Wirtschaft und Träger der freien Wohlfahrtspflege. Dennoch: Es war schnell klar, dass die Massenzustromsrichtlinie der Europäischen Union zur Anwendung kommen würde. In den Behörden hätte man wissen müssen, was das bedeutet und was daraufhin zu tun ist.
Was tut die Caritas, um gegenzusteuern?
Mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren bringen wir in regelmäßigen Videokonferenzen mit dem sächsischen Sozialministerium zur Sprache, wo wir Handlungsbedarf sehen. Diese Zusammenarbeit funktioniert gut. Mir scheint, das Ministerium ist dort präsent, wo es brennt und tut, was in seiner Macht steht. Auch innerhalb der LIGA der freien Wohlfahrtsverbände sind wir in ständigem Austausch. Viel Kraft bindet es gerade, neue Fördermöglichkeiten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Caritas international auszuschöpfen, um – vertraglich geregelt – unsere Beratungsdienste zu erweitern. Die Caritas will mehr Fachberatung anbieten für Geflüchtete und Vertriebene aus allen Herkunftsregionen. Der Bedarf ist hoch. Viele brauchen Unterstützung, um Wohnraum, Arbeit und einen Zugang zu Kita-Plätzen, Deutschkursen und Traumatisierungs-Behandlung zu bekommen. Zum Beispiel setzen wir uns dafür ein, dass Asylbewerber schnellere Verfahren bekommen und schneller Zugang zu Sprachkursen und Wohnraum erhalten. Das wäre möglich, ohne das Asylrecht außer Kraft zu setzen, das ja durchaus seine Berechtigung hat.
Die Belastungen für sozial Schwache werden vermutlich noch weiter steigen, die Zahl derer, die in die Sozialsysteme einzahlen, sinkt. Haben Sie Lösungen?
Auch ich habe mehr Fragen als Antworten: Welche Belastungen wird Putins Krieg für unsere Bürger noch bringen? Was macht das mit unseren Sozialsystemen? Wie lange hält es unsere Gesellschaft miteinander aus? Von welchen gut erlebten Gewohnheiten müssen wir Abschied nehmen? Wie können wir als Caritas unserem Auftrag einer guten fachlichen Beratung auch künftig gerecht werden? Darüber werden wir weiter nachdenken müssen.
Was können Christen tun, um die Solidarität zu fördern?
Mechthild Gatter Foto: Andreas Schuppert |
Solidarität ist ein anderes Wort für Nächstenliebe, es bedeutet, beim anderen zu sein, zu versuchen, ihn zu verstehen, offen zu sein für Begegnungen. Als Christ haben wir den Auftrag, jeden Menschen als Geschöpf Gottes zu sehen, ohne Vorsortierung nach Geschlecht, Nationalität, Aussehen, Religion. All dies kann man nicht anordnen, aber man kann es stärken. Ich sehe, dass unsere Gemeinden gerade viele Veränderungen zu bewältigen haben. Aber ich sehe auch ihren großen Schatz. Das sind die Menschen, die ihren Glauben leben wollen und es sind die Gemeindehäuser und -räume, die sie öffnen können und die nicht 80 Prozent der Woche leer stehen müssen. Wir sind doch als Gemeinde nicht für uns selbst da, sondern für die, die im Sozialraum mit uns leben. Es gibt Gemeinden, die sich in diesem Sinne öffnen und die sich die Frage stellen, was Gott von ihnen möchte. Die Antworten fallen unterschiedlich aus, und keiner kann alles tun. An einigen Orten sind Cafés entstanden. Einzelne begleiten Geflüchtete bei Behördengängen ...
Nicht in allen Gemeinden besteht diese Bereitschaft ...
Wir müssen wahrscheinlich noch mehr lernen, dass Vielfalt bereichern kann. Das Zusammenleben mit Menschen aus verschiedenen Kulturen, vielleicht auch mit einer befremdlichen Sozialisation bietet die Chance, sich selbst und seine Meinungen anfragen zu lassen und unseren Horizont zu weiten. Diese Erfahrung kann machen, wer neugierig auf Menschen ist und bereit, sie mit ihren Fähigkeiten und dem, wass sie aus ihrer Kultur mitbringen, als Geschenk zu betrachten.
Bewusst gestreute Falschnachrichten tragen dazu bei, dass die Stimmung gegenüber Geflüchteten kippt. Wie sollten Christen reagieren, wenn man ihnen beim Einkaufen unglaubwürdig scheinende Geschichten über Undankbarkeit und Gier Geflüchteter oder ihre fürstliche Behandlung erzählt?
Ich denke, es ist ihre Pflicht, sich kundig zu machen und kritisch zu hinterfragen, woher die Geschichte stammt. Wenn man die Fakten noch nicht überprüfen konnte, kann man auch sagen: „Das glaube ich dir jetzt nicht, ich kann mir das nicht vorstellen.“ Ich empfehle auch, selbst wahre Geschichten zu erzählen. Klar ist: Niemand hat sein bisheriges Leben leichtfertig zurückgelassen. Und niemand fällt hier in ein gemachtes Nest. Sich in ein fremdes System einzufügen ist eine große Herausforderung.
Interview: Dorothee Wanzek