Kardinal Ramazzini über Flucht und christliches Engagement in Lateinamerika

"Der Glaube zeigt sich in Werken"

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Flucht in die USA
Nachweis

Foto: imago/Seth Sidney Berry

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Mehrere Monate wird diese Familie aus Honduras in die USA brauchen.

Álvaro Ramazzini ist Kardinal in Guatemala. Er engagiert sich für Flüchtlinge, streitet um Handelsabkommen mit Europa, weist mächtige Zuckerproduzenten zurecht und kritisiert Regierungsvertreter. Im Interview erzählt er, warum es christlich ist, politisch zu sein

Einer von fünf Migranten weltweit kommt aus Lateinamerika. Was macht die Situation so schwierig?

Viele Menschen verlassen Venezuela, Haiti, Kolumbien oder Ecuador, weil sie bitterarm sind und keine Arbeit finden, die sie ernährt. In Haiti hat das jüngste Erdbeben die Situation verschärft, und besonders dort spielt die Gewalt bewaffneter Banden als Fluchtursache eine wachsende Rolle. Für die allermeisten Flüchtlinge sind die USA das Ziel. Wer den Landweg von Süden in die USA wählt, kommt unweigerlich durch Guatemala. Tausende, darunter auch viele Afrikaner, ziehen in Karawanen durch unser Land, um anschließend über Mexiko in die USA zu gelangen. Lange hat Mexiko den Durchzug mehr oder weniger geduldet. Nach einem vor kurzem geschlossenen Abkommen nehmen jetzt allerdings Mexiko und andere Herkunftsländer abgewiesene Flüchtlinge wieder auf. Im letzten Jahr sind täglich drei Flüge mit USA-Rückkehrern in Guatemala gelandet.

Ist Flucht für Guatemala nur ein Thema, weil es Durchgangsland ist, oder entscheiden sich Ihre Landsleute auch selbst zur Flucht?

In der Zeit des sehr blutigen Bürgerkriegs, der 1996 nach über 30 Jahren endete, haben viele Guatemalteken das Land verlassen. Schätzungen zufolge leben heute 2,1 Millionen Flüchtlinge aus Guatemala ohne Papiere in den USA. Zurzeit spielt der Familiennachzug die größte Rolle. Nachdem Schleuser vor etwa sieben Jahren auf ein Gesetz aus der Zeit von Präsident Bush aufmerksam wurden, das Minderjährigen die Einreise erleichtert, reist eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen aus Guatemala ohne Begleitung in die USA ein. Viele von ihnen finden dort aber gar keine Angehörigen mehr, die bereit sind, die Verantwortung für sie zu übernehmen. Ich habe kürzlich eine staatliche Einrichtung in den USA besucht, die Kinder aus meinem Land aufgenommen hat, die nicht wissen, wo sie hingehören – die jüngsten waren erst sieben Jahre alt.

Die katholische Kirche hat in Ihrem Land mit einem Bevölkerungsanteil von über 50 Prozent einiges Gewicht. Setzen Sie das ein, um Flüchtlingen zu helfen?

Álvaro Ramazzini
Kardinal Álvaro Ramazzini ist Gast bei der diesjährigen Adveniat-Aktion. Foto: Achim Pohl

Die Flüchtlingsherbergen, die es über das Land verteilt zwischen der Grenze nach Honduras im Süden und der Grenze nach Mexiko im Norden gibt, sind alle von der Kirche betrieben. Allen voran engagieren sich dort die Ordensfrauen und -männer der Scalabrinianer-Missionare. Die Migranten bekommen dort Essen und Unterkunft. Aber oft reicht das, was wir anbieten können, nicht aus, weil einfach so viele kommen und weil die Not so groß ist. Viele haben bereits einen sehr langen und äußerst gefährlichen Fluchtweg hinter sich. Sie haben das Urwaldgebiet an der Grenze zwischen Panama und Kolumbien durchquert, oft sogar mit Kindern. Dort droht nicht nur durch giftige Schlangen, Skorpione und Frösche, durch Krankheiten wie Malaria und Cholera Gefahr, sondern auch durch Drogenschmuggler und bewaffnete paramilitärische Gruppen. Auch auf dem weiteren Fluchtweg Richtung Norden kommt es häufig vor, dass Flüchtlinge ausgeraubt, dass Wegzölle von ihnen erpresst, dass Frauen vergewaltigt werden. Zu unseren Aufgaben zählt es, aufzuklären und zu beraten, wie man sich für den Fluchtweg wappnet. Wir empfehlen Frauen zum Beispiel Empfängnisverhütung, denn die Gefahr, auf der Flucht vergewaltigt zu werden, ist sehr hoch.

Wie unterstützt Adveniat Ihre Arbeit?

Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt uns in Guatemala beim Bau und dem Unterhalt von Herbergen für Migrantinnen und Migranten sowie Essensausgaben. Wir profitieren aber auch vom Adveniat-Fonds für die Ausbildung von Priestern und Laienmitarbeitern in der pastoralen und sozialen Arbeit der Kirche. 

Wie attraktiv ist Europa als Zielland für Flüchtlinge aus Lateinamerika?

Um nach Europa zu gelangen, müssen sie den Atlantik überqueren. Für die Allermeisten ist diese Hürde unüberwindlich. Europa spielt eher beim Menschenhandel eine Rolle. Organisierte Banden suchen insbesondere in der Dominikanischen Republik und Honduras Frauen für die Prostitution in Europa, oftmals Minderjährige.

Deutsche Regierungen reden seit Jahrzehnten davon, dass europäische Politik dazu beitragen muss, Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge einzudämmen. Welche Hilfen braucht Lateinamerika – insbesondere Guatemala – wirklich von Deutschland und Europa?

Bei allen Abkommen, die in den letzten Jahren zwischen einzelnen europäischen Staaten oder der Europäischen Union und Ländern Lateinamerikas geschlossen wurden, standen die Interessen der europäischen Unternehmen, die mit uns Geschäftsbeziehungen haben, obenan. Die Förderung unserer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung steht stattdessen an letzter Stelle. Die Priorität müsste umgekehrt werden. Andernfalls sind wir immer die Verlierer. Guatemala exportiert nach Deutschland nur Kaffee und Bananen. Unsere Wirtschaft hängt sehr stark vom Import von Medizin, Autos, Maschinen und Textilien ab. Da besteht ein großes Ungleichgewicht. Da Europa die Preise festsetzen kann, haben wir keine Chance, aus der wirtschaftlichen Unterentwicklung herauszukommen. Verträge müssten so gestaltet werden, dass nicht immer wieder die Reichen begünstigt werden und wir eine echte Chance bekommen. Ich habe selbst an Verhandlungen mit der EU teilgenommen, aber wir haben es nicht geschafft, etwas zu ändern. Helft uns, gerechte Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen und damit Arbeitsplätze zu sichern. Die USA ist für uns als Wirtschaftspartner noch wichtiger. Mit denen läuft es aber eher noch schlechter. 

Geflüchtetenfamilie überquert den Río Suchiate
 Eine haitianische Familie überquert den Río Suchiate nach Mexiko. Foto: imago/Richard Tsong Taatarii

Ist unsere Entwicklungshilfe ineffektiv?

Sie stärkt immer wieder diejenigen, die viel haben, zum Beispiel die reichen Zuckerproduzenten in unserem Land. Bei ihnen konzentrieren sich die Gewinne aus dem Zuckerexport. Sie haben sich zu Genossenschaften zusammengeschlossen und können über die Preise den Markt steuern. Die Arbeiter profitieren davon nicht. Im Gegenteil: Sie arbeiten unter entwürdigenden Bedingungen. Ich kenne aber durchaus auch Zuckerproduzenten mit einer sozialen Ader. Im letzten Jahr war ich auf eine gigantische Zuckerplantage eingeladen. Der Besitzer zeigte mir, wie gut die Arbeiter dort behandelt werden. Ich beglückwünschte den Besitzer, dass er seine Arbeiter so viel besser behandelt, als es in den meisten anderen Plantagen geschieht, fügte dann aber hinzu: „Eines fehlt ihnen noch.“ Er wurde hellhörig und ich fuhr fort: „Wenn Sie die Lebensbedingungen Ihrer Arbeiter tatsächlich verbessern wollen, machen Sie sie zu Aktionären, beteiligen Sie sie an Ihren Gewinnen.“ Darauf hat er nicht geantwortet.

Kann man überhaupt von hier aus dazu beitragen, dass sich die Lage verbessert? 

Die deutsche Regierung könnte zum Beispiel kontrollieren, dass deutsche Unternehmen in Guatemala sich fair verhalten, ihre Mitarbeiter gerecht entlohnen und ihre Steuern zahlen. Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat und andere zivilgesellschaftliche Akteure drängen die Bundesregierung immer wieder, diese Rolle auszufüllen. Schon jetzt leistet das Hilfswerk einen wichtigen Beitrag, insbesondere, indem es das öffentliche Bewusstsein für die Probleme und für die Verantwortung der Unternehmen und des deutschen Staates stärkt. 

Sie haben im September auch bei politisch Verantwortlichen in Deutschland um Unterstützung zur Stärkung der Demokratie Ihres Landes gebeten. Hat die Demokratie das Potenzial, Ihr Land zu gerechteren Verhältnissen zu führen?

So wie sie bisher bei uns gelebt wird, sicher nicht. Im September hat mit Bernardo Arévalo ein Politiker die Präsidentschaftswahlen gewonnen, der die Reformen auf den Weg bringen will, die Guatemala so dringend braucht. Es gibt aber eine sehr starke Gruppe im Land, die seine Amtsübernahme mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Die Demokratie hier hat nur dann eine Chance, wenn jeder Einzelne sich seiner Verantwortung als Staatsbürger bewusst wird und diese auch wahrnimmt. Ich sehe aber auch, dass wir beim Aufbau der Demokratie nicht am Anfang stehen. Die heutige Situation ist nicht mehr die gleiche wie vor 25 Jahren. Es kommt nun darauf an, junge Menschen und insbesondere auch Frauen zu motivieren, sich zu engagieren. Darin sehe ich durchaus auch eine Aufgabe für die Kirche. Auch deshalb brauchen wir innerhalb der Kirche Reformen, die die Teilhabe der Laien befördern.

Hoffen auf Asyl in den USA.
Venezulanische Geflüchtete hoffen auf Asyl in den USA. Foto: imago/Sue Dorfman

Leserbriefschreiber unserer Kirchenzeitung bitten uns zuweilen, uns auf Glaubensthemen zu beschränken und nichts über politische Fragestellungen zu schreiben. Sie motivieren die Christen Ihrer Diözese, sich politisch einzumischen. Warum meinen Sie, dass Christen politisch sein sollten?

Was ist die Definition von Politik? Ich verstehe darunter alle Aktivitäten, die auf das Gemeinwohl zielen. In diesem Sinne empfehle ich Christen, die Katholische Soziallehre zu lesen. Dort ist doch eigentlich alles dazu gesagt. Man kann es sich als Christ durchaus auch bequem machen und es sich in seiner Beziehung zu Gott gutgehen lassen. Jesus hat aber gesagt: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten. Der Apostel Jakobus hat die große Herausforderung des Christseins so beschrieben: „Der Glaube zeigt sich in Werken.“ Das Evangelium lehrt uns, dass es nur einen Weg ins ewige Leben gibt. Das 25. Kapitel des Matthäusevangeliums ist für mich wie der Führerschein für diesen Weg. „Wer einen Migranten aufnimmt, nimmt mich auf“ steht dort sinngemäß. Alles andere, auch die Frömmigkeit, die Sakramente dienen letztlich nur dazu, diesen Auftrag gut zu leben: „Ich hatte Hunger, ich war krank ...“. Wie schwer fällt es uns Katholiken oftmals zu verstehen, dass das wirklich in der Bibel steht! Der erste Gedanke, wenn wir einem Migranten begegnen, ist doch auch unter uns oft ein ganz anderer: Das könnte ein Räuber sein!

Bekommen Sie in Ihrer Diözese – zum Beispiel von wohlhabenden Katholiken oder von Ihren Amtsbrüdern der Nachbardiözesen – Gegenwind, wenn Sie zu politischen Themen Stellung beziehen und sich auf die Seite Armer und Ausgegrenzter stellen? 

Ja, ich bekomme viel Kritik. Ein Grund dafür liegt darin, dass ich mich klar positioniert habe gegenüber hohen Beamten und Regierungsvertretern, vor allem gegenüber denen, die ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche offensiv vor sich hertragen, aber gar nicht der christlichen Botschaft entsprechend handeln. Gerade jetzt in den Tagen meines Deutschlandsbesuchs musste ich dem Gerücht entgegenwirken, ich würde mit Haftbefehl gesucht. Dieses Gerücht stimmt nicht. In der Tat bin ich aber im Konflikt mit der guatemaltekischen Generalstaatsanwältin. Sie ist katholisch und gehört zu denen, die versuchen, die Amtsübernahme von Arévalo zu vereiteln. Vor den Wahlen hatte sie ihre Position auch ausgenutzt, um die Kandidatur einer Präsidentschaftskandidatin der indigenen Gemeinschaften zu verhindern. Ich hatte ihr bereits vor anderthalb Jahren einen Brief geschrieben und sie gebeten, die eine oder andere ihrer Aktionen zu korrigieren. In letzter Zeit bin ich mehrfach auf die Straße gegangen und habe mitdemonstriert für die Akzeptanz der Wahlergebnisse.

Dorothee Wanzek