Vortrag des Theologen und Philosophen Jean-Pierre Wils

Der große Riss

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Jean-Pierre Wils
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Foto: Anja Sabel

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Warum driftet die Gesellschaft auseinander? Darüber spricht Jean-Pierre Wils in seinen Vorträgen, jetzt auch in Osnabrück. Foto: Anja Sabel

Eines seiner neueren Bücher heißt „Der große Riss“. Und genau darüber spricht Jean-Pierre Wils jetzt in Osnabrück: über den Zustand unserer Gesellschaft, warum sie so tief gespalten ist, warum es gewaltig brodelt. Als Auslöser macht der belgische Theologe und Philosoph die Krisen der vergangenen Jahre aus. Finanzkrise 2008, gefolgt von der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg, flankiert von den Folgen des Klimawandels: Überschwemmungskatastrophen und Hitzewellen.

Dieser Zustand, sagt Wils, fordere die liberalen Demokratien extrem heraus. Warum? „Wir sind verstört und verängstigt, weil wir eine lange Zeit hinter uns haben, die geprägt war von positiven Erwartungen auf permanentes Wachstum, ökologischen Wohlstand und privates Wohlbefinden.“ Für eine Demokratie, die das nicht mehr garantieren könne, werde es gefährlich. Viele Menschen reagieren, indem sie sich abschotten oder in einer Nostalgieblase leben, „aber wir ahnen, dass wir viel verletzlicher sind, als wir glauben“.

Den Riss, erklärt Wils, könne man nicht mit dem Lineal von Punkt A zum Punkt B ziehen. Aber es zeige sich immer mehr, „dass uns eine Kluft von der Normalität der Vergangenheit trennt, die wir nicht mehr überbrücken können“. Einerseits nehmen wir den Riss wahr, andererseits leugnen wir ihn. Wils beschreibt dies als Kluft zwischen den Realisten und den Schönfärbern. Vor allem mit Blick auf das Klima appelliert Wils: Das drängendste Problem ist die Zeit. Er zitiert die deutsche Publizistin Carolin Ehmke: „Wir müssen lernen, die Zeit als eine existenzielle Währung zu verstehen.“ Und ergänzt: „Bisher fußte unser Lebensstil auf Reichweitenvergrößerung: ferne Reiseziele, immer mehr Wohnraum. Doch wir müssen uns umstellen: Nicht der Raum ist entscheidend, sondern die Zeit.“

Jean-Pierre Wils
Jean-Pierre Wils verließ die Kirche 2009. Er protestierte damit gegen die Entscheidung von Papst Benedikt XVI., die Exkommunizierung der Bischöfe der traditionalistischen Priesterbruderschaft St. Pius X., darunter des Holocaustleugners Richard Williamson, aufzuheben. Foto: Anja Sabel

Für Wils kündigte die Corona-Pandemie das Ende einer bestimmten Lebensweise an. Die sicher geglaubten Fundamente unserer Kultur sind dabei, langsam zu verschwinden. „Wir werden in Zukunft verzichten und manches verabschieden müssen, was uns bisher lieb und teuer war. Wir werden lernen müssen zu teilen, in dem Wissen, dass wir alle ökologisch verletzlich sind.“

Wir ahnen, dass wir viel verletzlicher sind, als wir glauben.

Jean-Pierre Wils plädiert für die Kunst der ständigen Improvisation. Eine schwierige Aufgabe, weil wir davon ausgehen, dass Gewissheiten herstellbar sind, dass das Leben steuerbar ist und wir die Zufälle aussortieren können. Es habe sich eine träge Zuversicht ausgebreitet. „Wir sind so arrogant zu glauben, dass die westliche Moderne leistungsfähig genug ist, um immer eine schlaue Alternative zu finden, damit wir uns aus den Krisen herauswinden können. Von diesem Bild müssen wir uns dringend verabschieden.“

Ein Vorschlag lautet, sich auf die Autarkiefähigkeit von Regionen zu besinnen. „Das heißt nicht, dass wir alle aufs Dorf ziehen müssen. Aber wir müssen so weit improvisieren, dass wir öffentliche Güter wie Wasser, Nahrung, Elektrizität, Gesundheit und wichtige Infrastrukturen re-demokratisieren und regional mitgestalten.“ Das, gibt er zu, wird uns gehörig herausfordern.

Jean-Pierre Wils, Professor an der Radboud Universität Nimwegen, spricht am Donnerstag, 14. März, um 19.30 Uhr im Forum am Dom, Osnabrück, über das Thema "Der große Riss. Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen". Eintritt: 5 Euro (ermäßigt 3 Euro). Anmeldung bei der Katholischen Erwachsenenbildung oder Telefon 05 41/3 58 68 71.

Anja Sabel