Warum sich Ärzte mehr Zeit für Patienten nehmen sollten

„Der leidende Mensch braucht Zuspruch“

Image
Kranke und Ärztin
Nachweis

Foto: istockphoto/AlexRaths 

Caption

Jeder Mensch sehnt sich nach Nähe. Kranke erst recht.

In der modernen Medizin läuft etwas falsch, sagt Giovanni Maio. Zu oft werden Patienten durchgeschleust wie eine anonyme Nummer. Dabei wäre es wichtig, dass Ärzte Zeit haben, mit ihnen zu reden. Im Interview erklärt der Medizinethiker, was das bewirken würde.

Warum sind kranke Menschen besonders verletzlich?

Durch ihre Krankheit werden sie oft in eine Lebenskrise gestürzt. Sie sind plötzlich nicht mehr die Aktiven und Leistungsfähigen, sondern angewiesen auf fremde Hilfe. Sie werden der Illusion beraubt, sie könnten ihr ganzes Leben lang alles selbst schaffen. Dadurch fühlen sie sich entwertet. 

Was heißt das für die Ärzte?

Sie dürfen die Patienten nicht auf ihre Krankheit reduzieren, sondern müssen ein Verständnis dafür haben, was die Krankheit mit den Menschen macht. Sie müssen sie in ihrer Verletzlichkeit sehen und verstehen: Da braucht mich jemand, damit er nicht zerbricht.

Was meinen Sie damit konkret?

Natürlich müssen Ärzte Befunde erheben, Diagnosen stellen, Medikamente geben und operieren, aber sie müssen sich auch für die Leidenserfahrungen der Patienten interessieren. Sie müssen sich eben für den Befund genauso interessieren wie für das Befinden, für die Krankheit genauso wie für das Kranksein. Es ist fatal, dass die Medizin immer mehr von Kunden statt von Patienten spricht. Denn der leidende Mensch ist kein Kunde, der sich Angebote einholt, sondern er braucht Unterstützung, Zuspruch und Ermutigung. Nur so kann er lernen, mit seiner Krankheit zu leben. 

Giovanni Maio
Giovanni Maio. Foto: Silke Wernet

Heißt: Ärzte sollten einfach mehr mit den Patienten reden?

Ja. Sie müssen die Patienten als unverwechselbare Individuen sehen, die nicht nur abgefragt, sondern auch angesprochen werden wollen. Denn wenn Patienten sich nicht ernstgenommen und verstanden fühlen, werden sie noch tiefer in die Krise gestürzt. Die Medizin muss das Behandeln mit dem Begleiten verbinden. Sie darf Patienten nicht durchschleusen wie eine anonyme Nummer. 

Heute passiert das oft, oder?

Leider ja. Die Medizin wird immer mehr als Behandlungsfabrik konzipiert. Und dadurch wird sie immer entmenschlichter. Sie lässt die Patienten allein in ihrer Not. Sie repariert viel, ohne den Patienten verstanden zu haben. Sie sollte aber nicht nur hantieren und intervenieren, sondern sich zuwenden und zuhören. Genau dort wird leider viel zu viel gespart, und durch die geplante Krankenhausreform wird das noch schlimmer werden.

Inwiefern?

Das aktuelle Gesundheitssystem gibt den Anreiz, so wenig wie möglich zu sprechen und den Patienten sofort in eine Behandlungsschablone zu packen. Darunter leiden nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzte. Denn für so eine Medizin sind sie nicht angetreten. Die Medizinstudenten, die ich im Hörsaal erlebe, möchten alle einen menschennahen Beruf ausüben. Aber die moderne Medizin gibt ihnen wenig Raum dazu. 

Was würden Gespräche bewirken?

Die Gespräche bewirken nicht nur, dass man mehr weiß, als Bilder sagen können, sondern dass man sprechend eine Beziehung zum Patienten stiften kann. Das Gespräch kann der Anfang einer Vertrauensbeziehung sein, und das ist die beste Basis für erfolgreiche Behandlungsschritte. 

Aber wie sollen Ärzte mehr mit Patienten reden, wenn in Krankenhäusern Ärztemangel herrscht und alle eh schon überlastet sind?

Dieser Ärztemangel ist die logische Folge widriger Arbeitsbedingungen. Viele Ärzte sind frustriert vom Alltag in den Kliniken. Sie empfinden ihn als sinnentleert. Wenn sie sich Zeit nehmen, werden sie wahrgenommen als diejenigen, die den ganzen Betrieb nur aufhalten. Also kündigen sie und wechseln in andere Sparten. Es passiert bei den Ärzten also genau das, was auch schon bei den Pflegekräften passiert ist. Viele Politiker wollen nicht erkennen, dass all die Anreize zur Minimierung der Kontaktzeit der Grund für dieses Problem sind.

Was müsste sich tun, um das Problem zu lindern? 

Man müsste die Kliniken so finanzieren, dass sie ihre Patienten in Ruhe behandeln können – natürlich ohne Geld zu verschwenden. Man müsste die Fehlanreize im System korrigieren und neue Anreize setzen, damit Raum für das Sprechen bleibt. Es wäre gar nicht teurer, wenn man mehr in Beziehungen investiert. 

Was, wenn das nicht passiert?

Wenn Zuwendung nicht mehr möglich ist, kann Medizin ihren Auftrag nicht mehr erfüllen. Im Moment erleben wir einen strukturellen Trend, der mit einer Entsorgung der Sorge einhergeht. Man muss ein Held sein, wenn man sich als Arzt tatsächlich Zeit nimmt. Und die Menschen haben Angst, alleingelassen zu werden, wenn es ihnen schlecht geht. Das darf nicht sein.

Müsste sich auch in der Ausbildung von Ärzten etwas ändern?

Trotz einer gewissen Aufwertung der psychosozialen Fächer bleibt das Studium nach wie vor zu einseitig geprägt durch die Vermittlung von naturwissenschaftlichem Wissen. Die Ärzte werden zu Reparateuren und Ingenieuren ausgebildet, und das ist ein Problem. Denn ein Arzt kann nur Arzt sein, wenn er in der Begutachtung des Lokalbefundes zugleich den Anspruch erhebt, sich ein Gesamtbild vom ganzen Menschen zu machen. 

Andreas Lesch

Zur Person

Giovanni Maio ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Autor zahlreicher Bücher. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz, die Bundesregierung und die Bundesärztekammer.