Anstoß 41/22
Der Rassist
Wir kennen uns. Der junge Mann, heute Mitte zwanzig, hat 21 Monate in unserer Gemeinde im Kirchenasyl gelebt. Bis heute hilft er freiwillig in der Gemeinde mit.
In Afghanistan aufgewachsen, hat Abdulla das Land als unbegleitet Minderjähriger verlassen. Seine harte Flucht endete in Berlin.
Abdullas Berufswunsch ist Krankenpfleger. „Eigentlich Arzt“, schmunzelt er leise. „Ich möchte Arzt werden.“ Also hat er Praktika in Pflegeeinrichtungen absolviert, auch auf einer Seniorenstation. Da passierte es. Als er das Zimmer einer bettlägerigen Frau betrat, im weißen Kittel und dem Mittagessen in Händen, schreckte diese auf. Sie fuchtelte wild mit den Armen und brüllte ihn an: „Du Rassist! Du wirst mich niemals anfassen. Geh dahin, wo du hergekommen bist. Und nimm alle diese Schmarotzer, diese Penner, gleich mit!“ „Okay“, antwortete Abdulla ruhig und verließ das Zimmer. Er wusste, dass die pflegebedürftige Dame auf seine tiefschwarzen Haare reagierte. Längst hat er gelernt, Anfeindungen dieser Art nicht persönlich zu nehmen. Professionell betrat Abdulla das Zimmer erneut. „Entschuldigen Sie“, so erklärte er der immer noch wütenden Seniorin freundlich, „aber ich bin für Sie zuständig. Ich kann also nicht einfach verschwinden, denn meine Aufgabe ist es, Ihnen beim Essen zur Hand zu gehen.“ Er lächelte. Ein Lächeln, dessen Zauber Gefühle positiv drehen kann. Die Dame schwieg. Abdulla führte ein unschlagbares Argument an: „Haben Sie Kinder? Oder Freunde? Dann könnten die diesen Dienst tun. Aber die sind nicht hier. Ich bin hier. Mich, den Sie ‚Rassist‘ nennen und vielleicht sogar Terrorist meinen: Ich spreche Ihre Sprache. Ich tue, was Ihre Kinder oder Freunde nicht tun. Ich helfe Ihnen. Wenn Sie Hunger haben, drücken Sie bitte den Knopf.“
Abdulla unterbricht die Geschichte und fragt mich: „Was glaubst du: Wie wird Krieg beendet? Oder Hass? Glaubst du mit Waffen? Ich glaube, dass Verhandlungen Frieden bringen. Dass miteinander reden Lösungen aufzeigt.“ Ich nicke und bekenne meine Ohnmacht. Es gibt Situationen, in denen auch Verhandlungen versagen. Aber Abdulla, der als Jugendlicher aus Afghanistans Krieg floh, bestärkt mich in meiner Überzeugung. „Liebe ist immer stärker. Sie zeigt uns Lösungswege.“