Die Frau, die sich nicht schämt
Sie hat nicht geschrien. Sie ist nicht weggelaufen. Lange Zeit hat sie das, was ihr passiert ist, gar nicht als Vergewaltigung erkannt. Lange Zeit hat sie gedacht, dass sie mutterseelenallein ist auf der Welt, die einzige, der jemals so etwas passiert ist: ein Priester, der Sex mit ihr will und kriegt. Sein Bedürfnis gegen ihren Willen durchsetzt. Und seine Deutung des Geschehens, sein Schweigegebot. Das war wie Sterben, hat Doris Wagner immer wieder berichtet. Sie war damals eine vernichtete Frau, eine am Boden Zerstörte.
Wer sie heute trifft, kann kaum glauben, dass die beredte, reflektierte, ruhige und bestimmte Frau, die vor einem sitzt, dieselbe Frau sein soll, der das passiert ist. Doris Wagner, das ist ihr Mädchenname und ihr Autorinnenname. Doris Reisinger heißt die verheiratete Frau, die gefühlt „auf allen Kanälen“ von ihrem Schicksal gesprochen hat. Es geht ihr dabei nicht um sich selbst. Das sind fast ihre ersten Worte im Gespräch: „Ich möchte etwas bewirken.“
„Missbrauch ist ein hässliches Wort und ein hässliches Ding“
Sie möchte, dass die Verantwortlichen in der Kirche verstehen, dass die Zeit von Vertuschen und Verschweigen vorbei ist und die Zeit für das Handeln gekommen ist. Seit 2004 kämpften Betroffene um Gehör, und gerade sieht es nach einem Durchbruch aus. In vielen Bistümern gibt es Prozesse, die Missbrauch in Zukunft verhindern und Opfern Gehör und Genugtuung verschaffen sollen. Seit kurzem erst wird auch der Missbrauch von Ordensfrauen thematisiert unter dem Stichwort #nunstoo („Auch Ordensfrauen“ ... sind Opfer sexueller Gewalt“)
Doris Wagner: „Missbrauch ist ein hässliches Wort und ein hässliches Ding, und da ist Abwehr da.“ Das versteht sie, aber ihr ist wichtig: „Das ist kein Schmuddelthema, und das betrifft nicht nur Randgruppen.“
Das Gespräch mit dem Kardinal: „Ich wollte keine Seelsorge“
Sie erzählt ihre eigene Geschichte nicht nur, weil sie wahr ist, sondern auch, weil sie weiß, dass authentische Erzählungen (das eigene „Schicksal“) die öffentliche Diskussion beeinflussen. Sie hat aufgehört, sich zu schämen für das, was geschehen ist: „Beschämend ist das für die, die mir das angetan haben.“ Ihr ist Gewalt angetan worden und deshalb ist sie ein Opfer: „Aber das ist nur ein Teil meiner Identität.“ Heute geht es ihr so gut, die Verletzungen sind Vergangenheit. Fast.
Vor laufender Kamera hat sich die 36-Jährige im Februar einem Experiment unterzogen: Sie sprach mit Kardinal Christoph Schönborn über Missbrauch in der Kirche, über ihre persönliche Geschichte und ihre Forderungen. Der Zusammenschnitt dieses Gesprächs wurde mehrfach versendet und fand sehr viel Interesse in den sozialen Medien, im September wird eine Mitschrift des gesamten Gesprächs als Buch im Herder-Verlag herauskommen.
Für Wagner war dieses öffentliche Gespräch „ein politischer Akt“. Sie wollte Kardinal Schönborn als jemand, der Verantwortung in der Kirche hat, auf seine Verantwortung ansprechen. Der Kardinal und die Ex-Nonne – der Kardinal und die Autorin – der Kardinal und das Opfer – der Kardinal und die Aktivistin; in allen diesen Rollen saß sie vor ihm. Schönborn hatte um das Gespräch gebeten, was sie ihm hoch anrechnet. Für sie stand aber fest: „Ich wollte keine Seelsorge von ihm.“
Der emotionale Höhepunkt der Fernsehübertragung ist ohne Zweifel, als sie den Kardinal um etwas Ungewöhnliches bittet. Er soll ihr öffentlich sagen, dass er ihr glaubt, dass sie vergewaltigt wurde. Als er das tut, treten ihr die Tränen in die Augen. „Das war ein unglaublich emotionaler Moment für mich“, sagt Wagner. Sie hat jahrelang erlebt, dass kein hochrangiger Kirchenvertreter ihr geglaubt hat. Als dieser Moment endlich da ist, wird ihr Leid offenbar, und dem Kardinal kommt am Ende doch noch Macht zu: Die Macht, etwas als Wahrheit anzuerkennen. „Ich glaube das“ – ein Satz, der Konsequenzen haben muss, aber in diesem Moment für Doris Wagner vor allem von höchster emotionaler Bedeutung war.
Warum tut sie sich das alles an? Weil sie sich als Stellvertreterin sieht für die vielen, die nicht mehr sprechen können, nachdem sie durch den Missbrauch als Personen zerstört wurden. Wagner kennt die Schicksale von Frauen, die von Gemeinschaften des geweihten Lebens ausgesondert und abgeschoben wurden, die in Armut leben, die sich nie wieder erholt haben und psychisch krank sind. Manche haben sich das Leben genommen. Auch sie selbst hat in ihrer schlimmsten Zeit daran gedacht: Schluss machen, für immer.
In den englischsprachigen Ländern werden deshalb die Opfer von Missbrauch „survivors“, also „Überlebende“, genannt, und das findet Doris Wagner passend, viel passender als „Betroffene“ und vielleicht auch besser als „Opfer“, denn von einem Opfer werde erwartet, (still) zu leiden.
Die Autorin analysiert in ihrem neuen Buch über „Spirituellen Missbrauch“ (siehe „Zur Sache“), wie in missbräuchlichen Beziehungen Kleriker und (auch weibliche) Ordensobere und andere „Seelenführer“ sich als Stimme Gottes in Szene setzen. Damit maßen sie sich Macht an über die Seele der ihnen Anvertrauten. Pater Klaus Mertes schreibt in seinem Vorwort zum Buch: „Bei allen Formen von ,Missbrauch‘ geht es um Machtmissbrauch – und im Fall des geistlichen Missbrauchs explizit um geistliche Macht, die höchste Form von Macht.“
Doris Wagner hat diesen Missbrauch der geistlichen Macht schon in ihrem ersten Buch „Nicht mehr ich“ genau beschrieben. Es ist das erschütternde Zeugnis einer Entrechtung. Christen sind berufen zur Freiheit, wie es Paulus im Brief an die Galater (5,13 bis 15) schreibt. Doch sie erlebte etwas ganz anderes: Ihr Wille wurde gebrochen, sie wurde gedemütigt, bis sie „nicht mehr ich“ war. Dies war zugleich die Voraussetzung für den späteren sexuellen Missbrauch. Denn wie die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern nicht im leeren Raum von fremden Menschen begangen werden, so ist es auch beim sexuellen Missbrauch in der Kirche: Das Opfer wird verstrickt und bearbeitet, es wird gebunden an ein vermeintlich höheres Prinzip, und erst, wenn es zu stark manipuliert ist, um sich zu wehren, erreichen die Täter ihr Ziel.
„Schauen Sie mich doch an“, sagt Doris Wagner. Sie meint die Fotos von sich aus der Zeit, als sie zum Opfer wurde: Eine verstört aussehende, sehr junge und dünne Frau in viel zu weiten Kleidern. Und das soll die Verführerin sein, wie manche Medien schreiben, die „den einen nicht gekriegt hat und sich mit dem anderen davongemacht hat“?
Ihr heutiger Mann war Priester und hat nach ihr die Gemeinschaft verlassen. „Er war der Erste, der sich hinter mich gestellt hat, der mir geglaubt hat. Er unterstützt mich. Und wenn er ein Mann wäre, der sich für mich schämt, wäre er nicht der richtige Mann für mich.“
So viele Jahre hat sie Gemüse geputzt und Marmelade aufgefüllt
Doris Wagner arbeitet heute Vollzeit in der Personalberatung. Seit diesem Jahr ist sie Doktor der Philosphie – mit Unverständnis und einem Hauch von Trauer erinnert sie sich, wie viele Jahre sie als „Einserabiturientin“ in ihrer Gemeinschaft beim Gemüseputzen und Marmeladeauffüllen verloren hat. Derzeit überlegt sie, wie es für sie weitergeht. Immer öfter wird sie als Referentin angefragt.
Sie hat sich trotz des Missbrauchs nicht von der Kirche abgewendet. Denn „die Kirche“, das ist für sie der „Lebens- und Erfahrungsraum von Menschen, die beheimatet sind in Sakralräumen, kirchlicher Kunst und Musik“.
Kirchenzugehörigkeit dürfe nicht länger an Kirchensteuerzahlungen festgemacht werden, fordert sie; es gehe um die „gefühlte Zugehörigkeit zu einem spirituellen Erbe“. Jahrelang war sie jeden Tag in der Messe, wenn sie in eine Kirche kommt, „kann ich die lesen“, biblische Geschichten sind für sie ein Schatz.
Interessant ist ihr Begriff von den spirituellen Ressourcen, über die Menschen in der katholischen Kirche verfügen. Sie schwärmt von der Fülle der spirituellen Traditionen des Katholizismus. Die biblischen Geschichten, die Texte von geistlichen Lehrern und Lehrerinnen, die Rituale, Lieder, Gebetsformen, sakrale Orte und sakrale Kunst sowie die Vorbilder der Heiligen gehören für sie dazu, aber auch „spirituelle Konzepte“ wie Gnade, Schöpfung, Gotteskindschaft, Erlösung, Schuld, Vergebung und Berufung. Ihr Ziel ist, dass möglichst viele Menschen ihre eigenen spirituellen Ressourcen erkennen, frei über sie verfügen und aus ihnen Kraft schöpfen.
Vor allem gilt ihr Engagement den Frauen. Im Katholizismus seien Frauen glorifiziert und idealisiert worden, ihre Leidensbereitschaft galt als hohes Gut. Jetzt, findet Doris Wagner, sei es an der Zeit, dass Frauen auch in der Kirche den Mund aufmachen und nicht mehr alles hinnehmen. Ihr Wohlempfinden, ihr Spaß, ihre Lust, ihre Karriere – Frauen sollen etwas wollen dürfen, meint Wagner: in ihrem Leben und in ihrer Kirche.
Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, 207 Seiten, Herder, 20 Euro