"Gefragte Frauen": Dagmar Schmidt

Die Frau, die Solidarität großschreibt

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Dagmar Schmidt vertritt den Lahn-Dill-Kreis, Biebertal und Wettenberg im Bundestag. Die SPD-Politikerin hat sich seit der Geburt ihres Sohnes Carl oft zu vorgeburtlicher Diagnostik geäußert. Sie will ein Recht auf Nichtwissen in der Schwangerschaft und eine „Willkommenskultur für jedes Kind“. Von Ruth Lehnen


„Ich bin einfach nicht eitel“ und „Ich mache gern Politik“: Zwei Aussagen der SPD-Politikerin Dagmar Schmidt aus Wetzlar.


„Mit solidarischen Grüßen“. So endet seit sieben Jahren der Newsletter, den Dagmar Schmidt am Ende jeder Sitzungswoche in Berlin verschickt. Der Newsletter der SPD-Politikerin ist bemerkenswert uneitel – „die Schmidt“ nutzt ihn, um Politik zu erklären und den Bürgern klarzumachen, was beim Regierungshandeln Gutes für sie rausspringt. Auch ganz konkret, im Portemonnaie. Die solidarischen Grüße sind zwar SPD-Sprech, wirken aber trotzdem glaubwürdig: Auch beim Treffen im Café der Lebenshilfe am Eisenmarkt in Wetzlar vermittelt Dagmar Schmidt ihre Politik eindringlich. Besonders stolz ist sie auf das kommende Bürgergeld, mit dem Grundsicherung in Zukunft kein Makel mehr sein werde, sondern „Schutz und Hilfe für ein selbstbestimmtes Leben“.

Als Wolfgang Schäuble ihr das Mikrofon abdrehte

Dagmar Schmidt ist seit 2013 im Bundestag, seit 2013 ist sie Mutter. Ihr Sohn Carl wurde mit dem Down-Syndrom geboren. „Ich mache gern Politik, und ich bin gern Mutter“, sagt die Heimatverbundene. Ihr Leben wechselt sich ab zwischen den Sitzungswochen in Berlin und dem Leben zuhause, wo sie in Dutenhofen wohnt, das zu Wetzlar gehört. Gern hätten Carl und sie einen Hund, aber wegen ihrer Aufgabe in Berlin geht das nicht. Geboren ist Schmidt 1973 in Gießen, sie ist Mitglied in zahlreichen Vereinen. Oft arbeitet sie im Wahlkreis mal einen Tag mit, in der Pflege, bei der Müllabfuhr oder in einer KFZ-Werkstatt. Sie will verstehen, was die Leute vor Ort machen und was sie bewegt.
Gerade in den schwierigen Zeiten will sie das Vertrauen vermitteln, „dass wir uns um die Schwächsten kümmern und jetzt nicht das Recht des Stärkeren kommt“. Unter „wir“ versteht die Arbeits- und Sozialpolitikerin die Regierungskoalition, an deren Programm sie mitgeschrieben hat, aber auch immer die SPD, für die sie steht: „Für mich gab’s nie eine andere Partei.“
Im Bundestag spricht sie so ähnlich, wie ihr Newsletter klingt. Zur Sache, ruhig. Sie möge mehr den Stil von Sigmar Gabriel als den von Gerhard Schröder, sagt sie. Nur einmal gab es einen Moment der Fassungslosigkeit bei einer Rede von ihr. Das war am 11. April 2019. Zahlreiche Abgeordnete hatten Redebeiträge angekündigt, man hatte sich darauf verständigt, dass keiner länger als drei Minuten spricht. Das Thema: Sollen Bluttests bei Schwangeren, die eine Behinderung des Ungeborenen nachweisen, Kassenleis-tung werden? Dagmar Schmidt waren die drei Minuten zu kurz. Sie bat, noch einen weiteren Satz sagen zu dürfen. Wolfgang Schäuble, damals Präsident des Bundestags, wies in schnarrendem Ton auf die geltenden Regeln hin und verwehrte ihr den einen Satz. Daraufhin gab es eine „ein- bis zweitägige Empörungswelle“, erinnert sich die Politikerin. Überschrift: „Schäuble dreht Mutter von Down-Syndrom-Kind das Mikrofon ab.“
Schmidt und diejenigen, die ihrer Meinung waren, sind in der Auseinandersetzung unterlegen. Heute sind die Bluttests, die ab der zehnten Schwangerschaftswoche Erbgutbestandteile des Kindes aus dem Blut der Schwangeren isolieren, Kassenleistung. Die Politikerin, Mutter des jetzt neun Jahre alten Carl, bedauert vor allem, was oft passiert: Schwangeren  wird geraten, sie sollten den Bluttest machen, „um Sicherheit zu haben“. Ist das Ergebnis da, gibt es kaum Hilfen, um mit der Situation umzugehen. So entscheiden sich viele Frauen für die Abtreibung. Immer seltener erblicken Kinder mit einer Trisomie („Down-Syndom“) das Licht der Welt.

„Der Beginn einer besorgniserregenden Entwicklung"

Dagmar Schmidt hat sich dafür ausgesprochen, dass Schwangere das Recht auf Nichtwissen haben müssten. Sie sollen nicht zu Untersuchungen gedrängt werden, wenn das Ergebnis nicht zu einer Therapie beitragen kann, nicht zu einer Heilung. Trisomie lässt sich nicht behandeln. Die Politikerin will „eine Willkommenskultur für jedes Kind“, will Inklusion und die bestmögliche Unterstützung für Eltern, die Hilfe brauchen.
Wenn die Rede auf „Belastungen“ kommt, stellt die Politikerin klar: „Mein Sohn ist Vieles, aber keine Belastung.“ Durch ihre eigene Geschichte ist Dagmar Schmidt zur Botschafterin für Menschen mit Behinderungen geworden. Im Sommer hat sich eine interfraktionelle Arbeitsgruppe zur Pränataldiagnostik gegründet, der außer Schmidt zum Beispiel auch Michael Brand aus Fulda (CDU) angehört. Die Abgeordneten teilen die Überzeugung, dass die Gesellschaft erst am „Beginn einer besorgniserregenden Entwicklung stehe, weil weitere Tests auf genetische Dispositionen ... vor der Zulassung stehen“. „Wo ziehen wir die Grenze?“, fragt die Wetzlarerin. Sie will „einen Stock ins Rad halten“, in die Mühle der Schwangerenbetreuung, die, angetrieben von Pharmafirmen, immer mehr Einzelheiten über das Ungeborene zutage fördert.

„Carl ist die Freude der ganzen Familie“

Von der Kirche, zumal der katholischen, erwartet die Politikerin nicht sehr viel im Kampf um mehr Beratung für die Eltern, um mehr Akzeptanz für Kinder in all ihrer Vielfalt. Einstmals eine starke Stimme bei dem Thema, hat sich die Kirche durch die Missbrauchsskandale diskreditiert. Für Schmidt ist ihr Einsatz für Menschen mit Behinderungen vielmehr eine Folge ihrer sozialdemokratischen Prägung: Weil die Menschen gleiche Rechte haben, sollten die Schwächsten geschützt werden, solidarisch und einfach, und nicht mehr um jede Leistung bei Krankenkassen oder Reha-Einrichtungen kämpfen müssen.  
Sie weiß, dass ihr Leben mit Carl sich unterscheidet von dem anderer Familien mit einem Kind mit Behinderung. Als Abgeordnete verdient sie gut und kann sich Unterstützung leisten, im Haushalt und bei der Betreuung. In den Sitzungswochen ist Carl bei seinem Vater, insofern treffe auf sie die Bezeichnung „alleinerziehend“ nicht zu, obwohl sie getrennt leben, erläutert Schmidt. Die Familie kümmert sich, die Großeltern sind auch noch da: „Carl ist die Freude der ganzen Familie“, betonen beide Eltern. Außerdem sei Carl trotz eines Herzfehlers sehr selbstständig.  
So klingt es auch, wenn sie von ihrem Sohn erzählt. Er ist „Kirchenfan“, mag die besondere Atmosphäre von Kirchenräumen, vor allem, wenn Musik gespielt wird. Und er ist ein ebenso großer Fußballfan wie sie selbst. Im August war er erstmals bei einem Bundesligaspiel dabei: Werder Bremen gegen die Frankfurter Eintracht, ein Fest mit sieben Toren. Carl hat jedes gefeiert und seine Mannschaft vorn gesehen.
Wie seine Mutter ist er Anhänger von Werder Bremen. „Lebenslang grün-weiß“, sagt Schmidt: „Ich bin in den 90-ern fußballerisch sozialisiert, und da hatte Werder Bremen den modernsten Offensivfußball.“ Schmidt ist ihren Leitsternen treu, schiebt aber gleich nach, auch die Eintracht sei heute ein toller Verein. Sie hat früher selbst Fußball gespielt, erst bei der SC Teutonia Watzenborn-Steinberg, und später beim VfB Gießen. Mannschaftssport war ihr Ding, defensives Mittelfeld ihre Position. Das sind die Guten in der Abwehr, die auch Qualitäten im Spielaufbau haben. Und das passt auch zur Politikerin Schmidt. 

Von Ruth Lehnen

 

GEFRAGT... GESAGT

„Selbst rausfinden, was richtig ist“

In der Rubrik „Gefragt ... gesagt“ geben die „gefragten Frauen“ möglichst spontan Antworten.

Durch wen und wie sind Sie mit dem Glauben in Kontakt gekommen?
Dagmar Schmidt: Meine Eltern haben mir seinerzeit freigestellt, ob ich zur Konfirmation gehe oder nicht. Sie sagten, egal, wie die Entscheidung ausfiele, ich würde dieselben Geschenke bekommen. Bei der Entscheidung sollte Materielles keine Rolle spielen. Ich habe dann die Bibel gelesen – nur hin und wieder einige Seiten im Alten Testament überblättert –  und mich für die Konfirmation entschieden. Unser Pfarrer in Pohlheim hat mich beeindruckt.

Welche persönliche Überzeugung ist für Sie wichtig?
Mir geht es um die Gleichheit aller Menschen. Dies finde ich in der Botschaft Jesu wieder, der mit allen Menschen zugewandt und respektvoll umgegangen ist. Ich bin komplett rassismusfrei großgeworden, und das war ein Geschenk für mich. Unterschiedliche Menschen können Wege finden, gut miteinander klarzukommen. Den Reflex „wir hier – die da draußen“ sollte es nicht geben. Wir müssen aufpassen, dass wir als Gesellschaft zusammenbleiben.

Warum sind Sie aus der Kirche ausgetreten?
Ich bin ausgetreten, als ich festgestellt habe, dass ich nicht (mehr) an ein höheres Wesen glaube.

Gibt es Erwartungen oder Hoffnungen, die Sie an die Kirchen oder die Christen haben?
Wenn es darum geht, Vielfalt zu leben, oder in den Debatten um Krieg und Frieden Position zu beziehen: Dann sind die Kirchen wichtig, wenn sie sich einbringen für eine lebendig diskutierende Gesellschaft.
Ich wünsche mir, dass sie beitragen zum Vertrauen in Gesellschaft und Demokratie, und auch Orte zur Verfügung stellen für den Austausch der Argumente.

Ihre liebste Bibelstelle?
Die Bergpredigt. Und Psalm 23 kann ich immer noch auswendig.

Ihr Rat an Frauen auf der Suche?
Was auf mich passt, muss nicht für andere passen. Es ist wichtig, auf die eigene Erfahrung und das Bauchgefühl zu vertrauen. Viele werden einem viel erzählen –  es ist aber wichtig, selbst rauszufinden, was richtig ist.

 

ZUR PERSON

Dagmar Schmidt, Arbeits- und Sozialpolitikerin

  • Dagmar Schmidt wurde im März 1973 in Gießen geboren, „in eine sozialdemokratische Familie“, und trat mit 16 Jahren in die SPD ein.
  • Sie ist Historikerin.
  • Seit 2013 vertritt sie den Lahn-Dill-Kreis, Wettenberg und Biebertal im Deutschen Bundestag.  
  • Sie ist stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, zuständig für Arbeit, Soziales und Gesundheit, sowie stellvertretende Vorsitzende der Landesgruppe Hessen.
  • Sie engagiert sich in der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe.
  • Ihr Sohn Carl, 2013 geboren, kam mit dem Downsyndrom zur Welt.
  • Sie engagiert sich gegen Selektion und für das Lebensrecht aller Menschen. In der Debatte um vorgeburtliche genetische Bluttests hat sie sich 2019 für ein Recht auf Nichtwissen in der Schwangerschaft ausgesprochen.
  • Sie ist Mitglied unter anderem derArbeiterwohlfahrt (AWO) in Wetzlar, der IG Metall, der Gewerkschaft Ver.di, des Deutschen Kinderschutzbundes, von „Pro Asyl“ und „Wetzlar erinnert“, beim Down-Syndrom Familientreff Mittelhessen e.V. und der Bundesvereinigung Lebenshilfe.
  • Sie ist großer Fußballfan, hat früher selbst gespielt. Ihr Verein ist Werder Bremen.
  • Als Lieblingsmusik gibt sie an: Klassik, Kirchenmusik, Indie, Hiphop.

Dagmar Schmidt, Wahlkreisbüro,
Bergstraße 60, 35578 Wetzlar,
Telefon: 06441 / 209 25 - 22;
E-Mail: dagmar.schmidt@bundestag.de
www.dagmarschmidt.de

Ruth Lehnen