Die Gabe der Brennessel
Foto: Harald Oppitz/kna
Einer Legende zufolge gingen drei Tage nach dem Tod der Mutter Jesu die Apostel zum Grab Mariens. Sie öffneten das Grab, fanden es aber leer. Statt des Leichnams lagen Rosen in der Gruft, und der heilsame Duft wohlriechender Blumen und Kräuter strömte ihnen entgegen. Zum Fest Mariä Himmelfahrt werden heute noch – oder man kann sagen: wieder – in vielen Kirchen Kräuter gesegnet. Der ländliche Brauch der „Kräuterbuschen“ hat eine Wiedergeburt erlebt. Auch in den Großstädten zwischen Beton und Autoschlangen werden heute Kräuter geweiht.
Es gibt verschiedeneRegeln dafür, welche Pflanzen ein „Kräuterwisch“ enthalten muss. In die Mitte gehört die Rose, die schöne, die duftende und dornenreiche Blume Mariens. Daneben die Lilie, sie steht für Josef. Rosmarin hilft zu gutem Schlaf, Salbei bringt Weisheit und Wohlstand, Wermut verleiht Kraft, Minze Gesundheit, und Arnika schützt gegen Feuer und Hagel.
Gegen Hagel? Ja, ein bisschen Aberglaube steckt in diesen Kräuterbräuchen. Das gilt auch für die Zahl der zu verwendenden Kräuter. Mal müssen es sieben, mal neun, mal zwölf verschiedene Kräuter sein; es gibt auch Anordnungen mit 77 oder 99 Pflanzenarten. All das sind magische Zahlen, wenn sie auch später einen christlichen Anstrich erhielten: die Zwölf für die Apostel, die Drei für die Dreifaltigkeit. Auch die recht späte Legende von den Kräutern im Grab Mariens ist wohl in der Absicht entstanden, die Kräuterbräuche christlich umzudeuten. Im Frühmittelalter galten sie als heidnisch. Der heilige Bonifatius versuchte sogar auf einer Reichssynode 743, Kräuterweihen zu verbieten.
Alle Geschöpfe sind miteinander verbunden
Erst 500 Jahre später entdeckte die christliche Theologie den Kosmos wieder. Große Gestalten wie Franziskus von Assisi oder Hildegard von Bingen erkannten in der Natur die Spur des Schöpfers – und seine Vorsehung. „Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Verfügung stehen, auf dass er mit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann“, schrieb Hildegard von Bingen. Und sie sammelte das Wissen um die Segenskraft und Anwendungsmöglichkeiten der heilkräftigen Pflanzen.
Es ist gut zu wissen: In vielen Pflanzen stecken heilende Kräfte. Es gibt verborgene Zusammenhänge in den Werken der Schöpfung. Und die Natur birgt in sich eine geheimnisvolle Kraft, Dinge ins Lot zu bringen, Krankheiten zu heilen und Leiden zu mildern.
Vielleicht lag es auch in der Absicht des Schöpfers, dass oft gerade die unscheinbaren Gewächse heilsame Kräfte in sich tragen. Die besten von ihnen werden gemeinhin unterschätzt, verachtet, von ahnungslosen Menschen sogar vernichtet: der Klee, der Löwenzahn, der Giersch. Es soll Gartenbesitzer geben, die sogar die „Königin der Heilpflanzen“, die Brennessel, mit Stumpf und Stiel ausreißen. Rückenschmerzen sind die Strafe für dieses frevelhafte „Unkrautjäten“. Aber die Königin ist nicht nachtragend. Ein Extrakt aus Brennesselkraut kann die Schmerzen lindern.
Auf jeden Fall hat es einen guten Sinn, wenn zum Fest Mariä Himmelfahrt die Kräuter gesegnet werden. Die ganze Welt steht unter dem Segen Gottes. Und er sorgt dafür, dass diese Welt zu einem guten Ende findet.
Gott tut das. Aber Gott verlangt dazu auch den Beitrag der Menschen. Was uns geschenkt ist, müssen wir annehmen – nicht ausrupfen. Ein Vorbild dafür ist eben Maria, die sich ganz in den heilenden Plan Gottes hineingegeben hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Willen.“