Der See Gennesaret
Die Wahlheimat Jesu
In diesen Wochen spielen die Sonntagsevangelien immer wieder am See Gennesaret. Jesus muss oft und gern dort gewesen sein. Vielleicht fühlen sich dort am See auch deshalb viele Pilger Jesus besonders nah.
Von Helmut Röhrbein-Viehoff
Tabgha: der Ort am See Gennesaret, an dem an Jesu wunderbare Brotvermehrung erinnert wird. Drei Jahre lang leiteten meine Frau und ich die dortige Jugend- und Behindertenbegegnungsstätte der deutschsprachigen Benediktiner. Oft und gerne habe ich in dieser Zeit auf dem Eremos-Hügel oberhalb von Tabgha gesessen und im milden Abendlicht auf den See geblickt. Da fühlt man sich ganz eins mit der Landschaft: vor mir das Wasser, links die Golanhöhen, rechts die Silhouette der Stadt Tiberias. Und ähnlich war es, wenn ich am späteren Abend, nach der Komplet, noch einmal nach Dalmanuta gegangen bin und mich ans Ufer des Sees gesetzt habe. Da funkeln die Lichter von Tiberias herüber, und am Fuße des Golan erkennt man die Laternen des Kibbuz Ein-Gev. Leise plätschern die Wellen ans Ufer, und vielleicht hört man den Ruderschlag eines einsamen Fischerbootes.
Aber manchmal wurde es auch stürmisch, so wie im heutigen Evangelium. Da erhebt sich nämlich während der Überfahrt „ein heftiger Wirbelsturm“, wie er typisch ist für diese Gegend im Frühjahr. Die Araber nennen ihn Scharkije, den Östlichen: kalte Fallwinde, die von den Golanhöhen herunterkommen und auf die wärmeren Luftschichten über dem See treffen – woraus sich plötzliche und heftige Turbulenzen ergeben.
Im Alten Testament wird der See Gennesaret „Kinnéret“ genannt – vielleicht abgeleitet von „kinnór“ = Harfe wegen seines harfenförmigen Grundrisses. Er wird nur wenige Male erwähnt: in Numeri 34,11 – da geht es um die Grenzen des Gelobten Landes; und im Buch Josua (12,3 und 13,27) – da wird das Siedlungsgebiet des Stammes Gad umschrieben. Im 1. Buch der Makkabäer (11,67) heißt der See auf Griechisch „Gennesar“, und „Gennesaret“ lautet dann auch sein Name im Lukasevangelium; Markus, Matthäus und Johannes nennen ihn auch „Meer von Galiläa“ oder „See von Tiberias“.
In Kinneret hat Jesus Kranke geheilt
Am Nordwest-Ufer des Sees liegt die Stadt Kinneret/Gennesaret, die schon in die frühe Eisenzeit zurückreicht; der Evangelist Markus (6,53-56) erwähnt, dass Jesus dort Kranke heilte. Die heutigen Ausgrabungen sind unscheinbar und lassen kaum erahnen, welche Bedeutung diese Stadt einst gehabt haben mag. Nicht weit davon entfernt liegt in der fruchtbaren Ebene der wohlhabende Kibbuz Ginnosar, wo sich ein originales „Jesus-Boot“ aus dem 1. Jahrhundert besichtigen lässt.
Der See Gennesaret ist 21 Kilometer lang und 12 Kilometer breit, in der Seemitte knapp 50 Meter tief und liegt rund 210 Meter unter dem Meeresspiegel. Er wird von Nord nach Süd vom Jordan durchflossen. Der See ist sehr fischreich – besonders am Nordwestufer bei Tabgha, wo mehrere warme Quellen sich in den See ergießen und die Fische anlocken. Schon zur Zeit Jesu war der Fischfang eine wichtige Einnahmequelle, und in Magdala, der Heimat von Maria Magdalena, gab es sogar fischverarbeitende Industrie: Trockenfisch für den Export.
Für die Menschen in dieser Gegend war die Region um den See ein Paradies. Flavius Josephus, der jüdische Historiker und Zeitgenosse Jesu, beschreibt es so: „Entlang dem See Gennesar erstreckt sich eine gleichnamige Landschaft von wunderbarer Natur und Schönheit. Wegen der Fettigkeit des Bodens gestattet sie jede Art von Pflanzenwuchs, und ihre Bewohner haben daher in der Tat alles angebaut (…) Nussbäume, die im Vergleich zu allen anderen Pflanzen eine besonders kühle Witterung brauchen, gedeihen dort prächtig in großer Zahl. Daneben stehen Palmen, die Hitze brauchen, ferner Feigen- und Olivenbäume, für die ein gemäßigtes Klima angezeigt ist (…) Der Boden bringt nicht nur das verschiedenste Obst hervor, sondern er sorgt auch lange Zeit für reife Früchte. Die königlichen unter ihnen, Weintrauben und Feigen, beschert er zehn Monate lang ununterbrochen; die übrigen Früchte reifen nach und nach das ganze Jahr hindurch. Denn abgesehen von der milden Witterung trägt zur Fruchtbarkeit dieser Gegend auch die Bewässerung durch eine sehr kräftige Quelle bei, die von den Einwohnern Kafarnaum genannt wird.“
Dieses Gebiet zwischen Magdala, Tabgha und Kafarnaum wird zur Wahlheimat Jesu von Nazaret; Matthäus (9,1) nennt Kafarnaum sogar „seine Stadt“. Von dort aus begibt er sich mehrfach per Fischerboot auf den See; und es ist manchmal verwirrend, wenn es in den Evangelien heißt „Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren“ und „Sie kamen an das andere Ufer des Sees“ oder „Jesus fuhr wieder ans andere Ufer hinüber“. Man braucht fast schon eine Landkarte, um zu verstehen, von wo nach wo jeweils die Bootsfahrt geht. Aber es zeigt auch, wie oft und wie selbstverständlich sich Jesus dort aufgehalten hat.
Das Leben Jesu wird am See lebendig
In dieser Landschaft entfaltet sich, was man den galiläischen Frühling genannt hat: das öffentliche Wirken Jesu, seine Verkündigung vom Anbruch der Gottesherrschaft in dieser Welt, seine Dämonenaustreibungen und Wunder, die Menschen heil machen an Leib und Seele, seine Mahlzeiten mit den Randständigen und Ausgestoßenen, seine endzeitliche Sammlung des Volkes Gottes, der zwölf Stämme Israels, dargestellt im Zwölferkreis. Und hier, wo alles anfing, erfahren nach Ostern seine Jüngerinnen und Jünger den auferstandenen Christus als lebendig, hier erhalten sie den Taufbefehl (Matthäus 28,16-20).
All das wird lebendig, wenn man sich in dieser Landschaft aufhält und innehält, statt zu eilen. Manche fromme Verortung der jesuanischen Überlieferung mag historisch anzuzweifeln sein; unzweifelhaft ist jedoch, dass dies der Landstrich, die Gegend ist, in der Jesus gelebt und gewirkt hat und die seine Verkündigung geprägt hat. Der Kirchenvater Hieronymus (347–420) hat deswegen die biblische Landschaft als das „fünfte Evangelium“ bezeichnet. Wer in diesem aufgeschlagenen Buch zu lesen versteht, dem öffnen sich mit neuer Klarheit die Botschaft der vier geschriebenen Evangelien. Ich bin froh, dass ich dort leben durfte, und kehre immer wieder gern dorthin zurück.
Lese-Tipp: Welt und Umwelt der Bibel 1/2021: „Der See Gennesaret“, hrsg. vom Katholischen Bibelwerk,
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