Interview mit Philosoph und Theologe Holger Zaborowski

Echte Güte lässt Gott erahnen

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Für viele Menschen hierzulande scheint Gott keine Rolle zu spielen, manche vermissen ihn. Wie kann man sich ihm heute nähern? Der Erfurter Philosoph und Theologe Holger Zaborowski versucht, im Interview Antworten zu geben.

Ein Gottesbild, das Gott für bestimmte, rein menschliche  Zwecke in Anspruch nimmt, wird ihm nicht gerecht. Davon ist der Erfurter Philosoph Holger Zaborowski überzeugt.
Foto: Eckhard Pohl

 

Für den Theologen und Philosophen Holger Zaborowski gehört die Frage, was Menschen über Gott sagen und denken, zu seinen zentralen Forschungsthemen. Seit 2020 hat der gebürtige Halderner den Lehrstuhl für Philosophie an der Katholisch-Thelogischen Fakultät der Universität Erfurt inne und damit in einer Region, in der die Frage nach Gott zumindest auf den ersten Blick immer mehr zu verstummen scheint.

Vielen Menschen hierzulande scheint die Frage nach Gott gleichgültig zu sein. Teilen Sie diese Einschätzung? Oder muss man sogar sagen: Immer mehr Menschen glauben nicht an einen Gott, sind Atheisten?

Die Gottesfrage spielt hierzulande keine zentrale Rolle. Da die Frage für viele kein Thema ist, gibt es auch kaum Menschen, die sich bewusst gegen ihn entscheiden oder gar aggressiv atheistisch wären. Zudem ist zu sagen: Wenn jetzt in ganz Deutschland zahlreiche Menschen aus der Kirche austreten, heißt das nicht, dass sie alle ihren Glauben aufgeben. Manche tun dies auch aufgrund ihres Glaubens an Gott.

Hat der Mensch Gott vergessen, weil er an die Wissenschaft, die Technik, die Machbarkeit von vielem glaubt?

Ich glaube, er hat Gott nicht vergessen. Nach Gott zu fragen, ist zutiefst menschlich. Und dies geschieht aus dem konkreten Lebenskontext heraus. Man kann Fragen wie „Hat mein Leben einen Sinn?“ oder „Warum musste mein Nachbar mit 50 sterben?“ als Varianten der Frage nach Gott verstehen.
Es gibt viele Suchende und viele Zweifelnde, auch zweifelnde Atheisten und zweifelnde Christen. Dass das Religiöse einfach gänzlich abstirbt, wie es mal vertreten wurde, stimmt nicht. Die Menschen haben eine diffuse Sehnsucht, dass das Leben letztlich gut ist, sinnvoll, stimmig. Und dass es „Mehr“ geben könnte als wir im Alltag erfahren. Das gilt besonders in Zeiten, in denen Menschen das Leben als stark gebrochen erfahren. In diesem „Mehr“ kann man auch eine religiöse Dimension erkennen.

Warum ist Gott vielen Menschen dennoch gleichgültig, fremd?

Ein entscheidender Grund ist wohl: Der Glaube hat eine Geschichte. Aus ihr sind immer wieder bestimmte Gottesbilder hervorgegangen. Heute aber haben bestimmte Gottesvorstellungen keine Bedeutung mehr. Und das zu Recht. Der Gott des Patriarchen Kyrill von Moskau zum Beispiel ist tot: Man kann Gott und den Glauben an ihn nicht dafür einspannen, aus Machtinteressen heraus gegen ein Land Krieg zu führen. Gott ist kein Objekt, das wir uns gefügig machen können, wie auch immer wir das tun.
Gott ist daher auch kein harmloser Wohlfühl-Gott, der immer nur lieb ist und all unsere Wünsche erfüllt, der vom Menschen keine Entscheidung erwartet oder von ihm nichts fordert. Auch ein solches Bild Gottes wird oft vermittelt. Wo bleibt da das Moment des Schreckens vor Gott und die Aufgabe, vorsichtig, demütig von ihm zu reden? Wo bleibt da die Erfahrung des Heiligen, Fremden an Gott? Die Erfahrung, dass die Nähe Gottes erschüttern kann?
Wer nach Gott fragt, wird immer wieder die Erfahrung machen: Gott ist anders, als wir es uns vorstellen. Vielleicht kann man zur heutigen Situation sagen: Gott entzieht sich. Vielleicht zeigt sich Gott darin, dass viele Menschen nicht mehr an ihn – an ein bestimmtes Bild, das wir uns von ihm machen – glauben, glauben können. Vielleicht ist die Abwesenheit Gottes ein Zeichen für seine Anwesenheit. Denn ein instrumentalisierter, verdinglichter Gott ist kein Gott. Menschen heute spüren das.

Wie kann der heutige Mensch damit umgehen?

Wenn alte Gottesbilder nicht mehr taugen, stellt sich die Frage, in welcher Weise Gott sonst präsent ist? Wer so fragt, muss sich auf die Suche begeben, muss offensichtlich eine andere Weise, von Gott zu reden, finden. Helfen können dabei vielleicht Menschen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, anderen Menschen nach Kräften Gutes tun, aber auch Künstler oder Schriftsteller, die sich auf ihre Weise der Wirklichkeit anzu-
nähern suchen. Als Christen sollten wir deshalb viel stärker mit sozial Engagierten, mit Künstlern, mit Literaten im Gespräch sein.
Heute spüren wir vielleicht viel stärker die Geheimnishaftigkeit Gottes, als dies früher der Fall war. Schon zwischen Menschen gibt es ja die Erfahrung, dass sich der andere immer wieder entzieht, dass er etwas Geheimnisvolles hat. Ähnlich ist es angesichts Gottes: Er durchbricht unsere Bilder und durchkreuzt unsere Vorstellungen. Als Christen glauben wir, dass Jesus das Bild Gottes ist. In ihm erfahren wir Gott, wenn wir uns auf ihn einlassen und ihm nachfolgen.Und zwar nicht nur theoretisch, sondern praktisch, im Tun, indem wir in eine Beziehung zu ihm  und zu anderen Menschen treten.

Wie kann das aussehen?

Christen kommt es heute mehr denn je zu, selbst Brücken zu bauen und dabei zu helfen, Brücken zu bauen. Brücken sind Orte der Verbindung und Begegnung, zum Beispiel von glaubenden und nichtglaubenden Menschen. Für uns Christen ist es einfach nicht mehr möglich, zu behaupten: Wir haben die Antwort auf alle Fragen. Stattdessen müssen wir es einüben, auch auf nicht oder anders glaubende Menschen zu hören und von ihnen zu lernen. Dann kann sich auch Neues ereignen. Vielleicht zeigen sich gerade in diesen menschlichen Begegnungen neue Spuren Gottes.
Wer die Gottesfrage stellt, fragt, wie man ihm begegnen kann. Erfahrbar kann Gott auch in der Liturgie werden. Wenn Liturgie, das Gebet, wenn die Feier unseres Verhältnisses zu Gott funktionale Zusammenhänge aufbricht, also Gott nicht in bestimmte Vorstellungen hineinpresst, sondern ihm in seiner Geheimnishaftigkeit Raum und Zeit gibt, kann sie Ort der Nähe Gottes sein. Und sei es, dass man zunächst erfährt, dass Gott fehlt, dass er nicht so da ist, wie man es sich wünscht. Dann erfährt man ihn so, wie man einen Menschen oft als präsent erfährt, wenn er einem fehlt. Gerade in diesem Bereich hat die Kirche eine wichtige Aufgabe.

Die Naturwissenschaften sagen: Wir leben in einer evolutiven Welt mit ihren auch problematischen Seiten. Welche Rolle spielt das für das Gottesverständnis?

Auf der einen Seite ist es wichtig, zwischen den Naturwissenschaften und der Religion zu unterscheiden. Die Naturwissenschaften betrachten die Welt, ohne auf Gott Bezug zu nehmen. Und das ist sehr gut so. Das bedeutet übrigens auch, dass sich der Atheismus naturwissenschaftlich nicht begründen lässt. Auf einer tieferen Ebene können die Erkenntnisse der Naturwissenschaften aber auch zur Frage nach Gott führen oder diese Frage modifizieren. Der Glaube muss auf der Höhe der Zeit sein, und das bedeutet, dass er auch das anerkennt, was die Wissenschaften sagen. Bestimmte Gottesbilder sind daher nicht mehr möglich.

Welche Rolle spielt das Leid und das Böse bei einer zeitgemäßen Rede von Gott?

Jeder Versuch, Gott zu denken, muss diese Erfahrungen ernst nehmen. Wir können an diesen Erfahrungen nicht vorbeischauen und müssen schon um der vielen leidenden Menschen willen fragen: Woher kommt das Böse? Beantworten können wir die Frage nicht. Wir können hoffen, dass letztlich alles ins Gute gewendet wird. Wer an Gott glaubt, ist von dieser Zuversicht getragen.

Wie also lässt sich heute zu Gott durchdringen?

Es gibt eine weitere Frage, die wir stellen müssen und nicht ohne Antwort lassen dürfen: Woher, wenn es keinen Gott gäbe, kommt das Gute? Ein Weg des Zugangs zu Gott ist womöglich das vorbehaltlos gute Handeln, wie es zum Beispiel Pater Maximilian Kolbe in Auschwitz praktiziert hat. Vielleicht ist die abgründige Erfahrung radikaler Güte, wie sie selten, aber um so eindrucksvoller vorkommt, eine Spur, die Gott erahnbar macht, gerade auch in Situationen größten Leids.
Die Erfahrung von Güte in der Hingabe für andere Menschen, im radikalen Einsatz für Gerechtigkeit, in der tätigen Solidarität mit Schwachen. Kann darin nicht ein Windhauch Gottes aufscheinen, der uns irritiert und erschreckt, aber auch berührt und anspricht? Wäre das ein denkerischer Zugang zu Gott, der Gott nicht verdinglicht oder begrifflich zu erfassen sucht, sondern offen ist für das Vertraute in seiner Fremdheit, für die Präsenz in seinem Fehlen? Ein solcher Zugang bietet die Chance, auch im Gespräch mit nicht und anders glaubenden Menschen, mit Kunst und Literatur immer wieder nach Spuren Gottes im ganz Alltäglichen, im Hier und Heute Ausschau zu halten.

Interview: Eckhard Pohl