Der Tod in der Bibel
Ein Fehler im System?
„Gott hat den Tod nicht gemacht“, heißt es in der Lesung, und im Evangelium verweigert sich Jesus dem Sterben eines Kindes. Ist der Tod also ein Fehler im Schöpfungsplan? Wäre ohne den Tod alles viel paradiesischer?
Von Susanne Haverkamp
Der Tod ist schlimm. Besonders für die, die zurückbleiben, die sich von einem geliebten Menschen verabschieden müssen. So wie Jaïrus und seine Frau, heute im Evangelium. Ihre 12-jährige Tochter liegt im Sterben, in ihrer Verzweiflung greifen die Eltern zu jedem Strohhalm. Da ist doch dieser Heiler, dieser Jesus, der schon an anderen Wunder vollbracht hat. Vermutlich hat die Frau ihren Mann geschickt. „Geh und hole ihn.“ Sie selbst weicht keinen Zentimeter vom Bett ihrer Tochter. Jeder, der Kinder hat, wird das verstehen.
Kinder verlieren, Papa oder Mama verlieren, den Mann oder die Frau verlieren ... ja, der Tod ist schlimm. Hätte Gott das nicht auch anders hinbekommen können? „Gott hat den Tod nicht gemacht“, sagt der Weisheitslehrer aus dem Alten Testament. Und warum gibt es ihn dann? „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt“, sagt er. Kann es sein, dass er gerade einen Verlust erlitten hat und eine Erklärung sucht?
Nein, so war es wohl nicht. Was klar wird, wenn man den Zusammenhang sieht, aus dem die Verse herausgerissen sind. Das erste und zweite Kapitel ist nämlich eine Mahnung zu einem gottesfürchtigen Leben. Was dazugehört, sagt der Weisheitslehrer so: „Jagt dem Tod nicht nach in den Irrungen eures Lebens und zieht nicht durch euer Handeln das Verderben herbei!“ (1,12) Damit meint er diejenigen, die schon damals nach dem Motto lebten: „Live fast, die young“, lebe kurz, aber heftig. „Auf, lasst uns die Güter des Lebens genießen und die Schöpfung auskosten, wie es der Jugend zusteht. Erlesener Wein und Salböl sollen uns reichlich fließen, keine Blume des Frühlings darf uns entgehen.“ (2,7)
Auch hier galt schon das Motto „Survival of the fittest“. „Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz.“ (2,11) Wahrhaft teuflisch, diese Art, auf Kosten anderer zu leben, ihren und den eigenen Tod billigend in Kauf zu nehmen um des Vergnügens Willen.
Nein, sagt der Weisheitslehrer hier, der Tod ist nicht erstrebenswert. Gott, hat „keine Freude am Untergang der Lebenden“. (1,13). Und vielleicht heilt Jesus deshalb die Kranken und rettet die Tochter des Jaïrus. Aber der Tod ist auch kein Fehler in der Schöpfung, und das aus mehreren Gründen.
Biologie
Interessanterweise ist der Tod in der Biologie nicht selbstverständlich. Ein Schwamm, den Forscher in der Antarktis entdeckt haben, lebt seit 10 000 Jahren. Einzeller wie das Pantoffeltierchen haben gar die theoretische Chance, Milliarden Jahre zu leben. Es gibt tatsächlich Lebewesen, die potenziell unsterblich sind, wenn sie nicht gefressen oder durch andere äußere Umstände getötet werden.
Allerdings: Arten, die nie sterben, entwickeln sich auch nicht. Im Gegensatz zu Lebewesen, die sich paaren und deshalb immer wieder verändern. Mutationen nennen Biologen diese Veränderungen, und wenn sie für die Art gut sind, setzen sie sich durch. Gleichzeitig schafft die Elterngeneration durch ihren Tod Platz für die Kinder- und Enkelgeneration; unsterbliche Eltern würden das Leben ihrer Nachkommen behindern, weil sie dauerhaft Lebensraum besetzen.
Fortpflanzung und Tod sind also das Erfolgsrezept der Evolution. Unsterblichkeit könnte dagegen zum Aussterben führen, wenn eine Art nicht in der Lage ist, sich veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Wenn etwa die Antarktis zu warm wird, könnte das auch dem alten Schwamm den Garaus machen.
Psychologie
Entwicklung geschieht nicht nur in der Evolution durch Jahrmillionen hindurch, Entwicklung geschieht in jedem von uns. Von der Kindheit und Jugend über die Erwachsenenzeit bis zum Alter verändern wir uns – äußerlich wie innerlich. Äußerlich bauen wir ab. Aber innerlich können wir uns, wenn es gut läuft, verbessern, reifen, wie man so sagt. Das schafft nicht jeder, aber die Chance ist da.
Kürzlich las ich ein Interview mit einem Ehepaar. Sie ist seine zweite Frau nach einer ersten gescheiterten Ehe, beide sind in ihren 60ern. Er erzählt in dem Interview, wie er früher war, vor 20 Jahren oder so. Karrieregeil, egoistisch, rücksichtslos. „Sei froh, dass du mich damals nicht gekannt hast“, sagte er. „Bin ich“, sagt sie, „so wie du damals warst, hätte ich dich nie geheiratet.“
Auch gesellschaftlich nützt die Aussicht auf den Tod. Der Philosoph Werner Becker meint in seinem Buch „Das Dilemma der menschlichen Existenz“, dass das Wissen um die eigene Sterblichkeit die Menschen motiviert hat, kreativ zu werden, Großes zu schaffen. Gerade weil wir gehen müssen, möchten wir, dass etwas von uns bleibt. Die begrenzte Zeit treibt an, sie zu nutzen. Wenn ich ewig Zeit hätte, warum dann überhaupt anfangen?
Theologie
Das Wissen um die Sterblichkeit hat die Menschen immer in ihrem Glauben herausgefordert. Wenn jemand, den wir lieben, stirbt, wohlmöglich viel zu früh, dann hadern wir mit Gott. Und genauso hadern wir, wenn uns selbst eine tödliche Diagnose trifft – es bliebe doch noch so viel zu tun. Auch deshalb war die Menschheit in ihrem Nachdenken über Gott irgendwann überzeugt: Wenn Gott das Leben ist, kann der Tod nicht das letzte Wort haben.
Das ist einerseits eine Frage der Gerechtigkeit, die auch im Weisheitsbuch aufstrahlt. Diese schlechten Menschen, von denen dort die Rede ist, „hoffen nicht auf Lohn für Heiligkeit und erwarten keine Auszeichnung für untadelige Seelen“ (2,22). Die wahrhaft Glaubenden schon.
Menschlich verständlich, diese Hoffnung auf himmlische Gerechtigkeit, vor allem, wenn man auf der irdischen Schattenseite steht. Vielleicht ist aber etwas anderes noch wichtiger: dass unser Leben ein Ziel hat. Dass es eben nicht immer nur weiter und weiter und weiter geht, endlos und letztlich ohne Perspektive. Wir haben ein Ziel und das ist das Leben bei Gott. Und dafür braucht es den Tod.
Hätte Gott nicht eine Welt ohne den Tod erschaffen können? Ja, hätte er vermutlich. Aber die wäre dann wohl viel weniger dynamisch und viel langweiliger geraten. „Gott hat den Tod nicht gemacht?“, sagt das Weisheitsbuch. Naja ... vielleicht schon. Ganz dumm ist die Idee ja nicht.