Pater Hermann Geißler wurde freigesprochen, Doris Wagner (Reisinger) nicht angehört

Ein Urteil, das von sich reden macht

Image
22_Signatur-kna.jpg

Was geschah bei der Beichte? Das war Gegenstand eines Gerichtsverfahrens, das am 15. Mai 2019 im Vatikan entschieden wurde. Pater Hermann Geißler wurde freigesprochen, Doris Wagner (Reisinger) nicht angehört. Von Ruth Lehnen

Die Apostolische Signatur im Palazzo de Cancelleria in Rom. Foto: kna

 

1. Worum geht es?

Doris Wagner, verheiratete Reisinger, hat zwischen 2002 und 2011 dem Orden „Das Werk“ angehört. In ihrem Buch „Nicht mehr ich“ beschreibt sie diese Zeit als eine Zeit der Entrechtung. Während dieser Zeit, so berichtet die Theologin, wurde sie von einem Priester des Werks vergewaltigt. Dies war nicht Gegenstand des jetzt entschiedenen Verfahrens. Sondern es geht um einen anderen Priester des „Werks“, der nach diesen Vorfällen zu ihrem Beichtvater wurde. Doris Wagner (Reisinger) sagt, dieser Priester habe sie während der Beichte angefasst und sexuell bedrängt. 

Ein solches Verhalten stellt nach dem Codex des kanonischen Rechts eine schwere Straftat dar (can. 1387 Codex Iuris Canonici). Allein über diese Frage (hat der Priester bei der Spendung des Bußsakramentes ... „zu einer Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs zu verführen versucht“?) ging es bei der jetzt vom obersten Vatikanischen Gericht („Apostolische Signatur“) am 15. Mai 2019 entschiedenen Untersuchung.

2. Wer war angeklagt? 

Mittlerweile ist öffentlich bekannt, dass es sich bei dem Priester um Pater Hermann Geißler handelt, der Abteilungsleiter in der Glaubenskongregation in Rom war. Von diesem Posten trat er im Januar 2019 zurück, als bekannt wurde, dass der Vatikan in der Sache eine (weitere) Untersuchung eingeleitet hatte. Geißler hat die Vorwürfe immer abgestritten und den Vorfall im Gespräch mit der „Herder Korrespondenz“ so dargestellt: Er habe Doris Wagner „in einem vertraulichen Gespräch“ nach der Beichte „in empathischer und mitfühlender Weise, jedoch immer in der Sie-Form“ seine „Wertschätzung für sie zum Ausdruck gebracht“. „Gleichzeitig habe ich bekräftigt, dass die gegenseitige Verbundenheit übernatürlich sein muss.“ Er habe nicht mehr im Beichtzimmer, sondern im Vorzimmer „mit meiner rechten Wange ihre rechte Wange berührt, als Geste der Zuneigung und gegenseitigen Verbundenheit.“ 

3. Unter welchen Umständen wurde das Urteil gefällt?

Nach Einschätzung des Mainzer Kirchenrechtlers Professor Matthias Pulte ist die Initiative zur Anklage wohl von der Glaubenskongregation selbst ausgegangen. Aufgrund eines „speziellen Mandats“ von Papst Franziskus wurde die Apostolische Signatur beauftragt, „das universalkirchliche Höchstgericht“. Die Signatur kam ins Spiel, weil Pater Geißler Mitarbeiter der eigentlich zuständigen Glaubenskongregation war. 

Laut Pulte hat es sich um ein Verwaltungsstrafverfahren gehandelt, „das sich vom ordentlichen Prozess signifikant unterscheidet, denn hierbei kommt es nicht automatisch zur persönlichen Anhörung von Angeklagtem und Zeugen“. Das Gericht wird von Amts wegen tätig und erhebt von sich aus Beweise. Dem Angeklagten, Pater Geißler, wird ein Verteidigungsrecht zugestanden. 

Doris Wagner (Reisinger) war in diesem Verfahren nicht Klägerin und nicht Partei. Das heißt, sie war in einem Verfahren, in dem über einen Übergriff auf ihre Person verhandelt wurde, nicht direkt beteiligt. Wagner hat in dem Kurznachrichtendienst Twitter erklärt, dass sie zwar als Zeugin hätte angehört werden sollen, zwei Tage vor dem Termin aber wieder ausgeladen wurde. 

Sie wurde als Zeugin nicht angehört, hatte dem Gericht aber umfangreiches schriftliches Material übersandt.

4. Wie lautet das Urteil? 

Nach der Pressemitteilung des höchsten vatikanischen Gerichts, der Apostolischen Signatur, wurde ein Dekret erlassen, das einem Urteil gleichkommt. Darin heißt es, dass (mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschliessenden Gewissheit) nicht feststehe, dass der Angeklagte die Tat begangen habe. 

Nach Einschätzung von Professor Pulte handelt es sich damit um einen Freispruch aus Mangel an Beweisen. Pater Geißler wurde vom Vorwurf, eine Straftat laut can. 1387 Codex Iuris Canonici begangen zu haben, freigesprochen. 

5. Wer hat das Urteil gefällt?

Das Urteil wurde von fünf Richtern gefällt, die alle Priester sind. 

6. Welche Reaktionen gibt es von Pater Geißler und Doris Wagner (Reisinger) auf das Urteil? 

Auf Anfrage der Kirchenzeitung äußerte sich Pater Geißler: „Aufgrund eines päpstlichen Mandats wurde die Angelegenheit nicht von der Glaubenskongregation, die an sich für solche Fälle zuständig ist und deren Mitarbeiter ich gewesen bin, sondern vom Obersten Gericht der Apostolischen Signatur behandelt und entschieden. Ich danke dem Heiligen Vater, dass er dies veranlasst hat und so eine sachliche Untersuchung durch ein unbefangenes Gericht – und zwar das höchste Gericht der Kirche – ermöglicht hat.“ Dass der schwerwiegende Vorwurf nicht mehr auf ihm laste, lasse ihn neu aufatmen. „Entscheidend bleibt für mich, dass ich Gott guten Gewissens in die Augen schauen kann.“ 

Doris Wagner (Reisinger) nannte das Urteil „ein beschämendes Zeugnis für die mangelnde Rechtskultur in der Kirche“. Sie betonte gegenüber der Kirchenzeitung, sie sei weder über den Beginn noch den Abschluss des Verfahrens in Kenntnis gesetzt worden, nicht als Zeugin gehört worden, habe keinen Anwalt benennen dürfen. Der stattdessen zugezogene Rechtsbeistand sei ignoriert worden. Sie habe mehrere Zeugenaussagen schriftlich beigebracht, auch von einer weiteren Ordensschwester, die ebenfalls übergriffiges Verhalten von Pater Geißler erlebt habe, diese seien nicht beachtet worden. Wagner (Reisinger) kündigte an, sie werde die ihr vorliegende Korrespondenz mit der Signatur einem Kirchenrechtler zur wissenschaftlichen Aufarbeitung übergeben: „Der Vorgang spottet jeder Beschreibung.“ 

7. Ein Fazit 

Professor Pulte verweist auf den „klugen richterlichen Grundsatz“, den schon Papst Bonifaz VIII. geprägt hatte: „Dass in Rechtsstreitigkeiten immer auch die andere Seite zu hören sei“. – „Die Vorgehensweise der Signatur stärkt demgegenüber leider nicht das Vertrauen in eine unabhängige kirchliche Rechtsprechung.“ 

Pulte verweist auf schon länger andauernde Bemühungen, teilkirchliche Strafgerichtshöfe zu schaffen, die mit eigens ausgebildeten Kirchenjuristen Strafsachen aus den deutschen Bistümern unabhängig behandeln. Die deutschen Bischöfe setzten sich derzeit dafür ein, dass eine solche Gerichtsbarkeit in Deutschland eingerichtet wird. 

Auch eine deutliche Erhöhung des Anteils weiblicher Kirchenrichter sei wünschenswert, ebenso die Abschaffung der Regelung, dass über einen Priester nur Priester urteilen dürfen. 

Professor Pulte gibt auch zu bedenken, dass zwischen subjektiver Glaubwürdigkeit und objektiver Beweisbarkeit eine für Betroffene oft schwer erträgliche Spannung liegt.

 

Meinung: Viele Fragen bleiben

Das Urteil ist gefällt, Pater Hermann Geißler ist freigesprochen worden. Trotzdem bleiben Fragen: Lässt sich 2019 noch ein Prozess führen, bei dem nicht beide Parteien gehört werden? Ich meine: Nein.

Ist die Regelung noch vermittelbar, dass nur Priester über Priester urteilen dürfen? Ich meine: Nein. 

Ist ein Gerichtshof noch zeitgemäß, der seine Urteile nicht veröffentlicht? Ich glaube, nein. 

Im derzeitigen gesellschaftlichen Klima verstärken die Nachrichten über das Urteil festsitzende Meinungen, dass es in der Kirche ungerecht und finster zugeht. 

Es ist gut, dass sich die deutschen Bischöfe darum bemühen, dass in Zukunft teilkirchliche Strafgerichtshöfe geschaffen werden. Hier sollen unabhängige Richter und hoffentlich auch zunehmend mehr Richterinnen über kirchliche Strafsachen urteilen. Erst wenn es so weit ist, wird sich zeigen, welche Rolle kirchliche Gerichte beim Kampf gegen den Missbrauch spielen können. Dazu kommt noch: Die Mechanismen von Machtmissbrauch, zu denen es gehört, die Opfer kleinzumachen und zum Schweigen zu bringen, sind nur zum Teil justiziabel, das heißt, vor Gericht zu klären.

https://www.aussicht.online/artikel/die-frau-die-sich-nicht-schaemt

Ruth Lehnen