Eine Märtyrerin aus Hamburg
Ruth Kantorowicz half entscheidend, das Werk Edith Steins zu publizieren. Beide wurden im KZ Auschwitz vor 80 Jahren ermordet. Gleichwohl erinnert bis heute nur ein Stolperstein an die Wegbegleiterin der Heiligen.
Sie kannten sich schon von Kindheit an. Und sie wurden am selben Tag vor 80 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht, und zwar am 9. August 1942: Edith Stein, deren Namenstag auf dieses Datum fällt, und Ruth Kantorowicz. Edith Stein, seit 1998 als heilige Märtyrerin verehrt, ist weiten Kreisen bekannt, Ruth Kantorowicz hingegen eher einem kleineren Kreis. Dabei wird sie als einzige Frau aus dem Bereich des heutigen Erzbistums Hamburg im Verzeichnis der katholischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts aufgeführt – neben den Lübecker Märtyrern, Pfarrer Bernhard Schwentner und Kurt Mathias von Leers. Und seit knapp zehn Jahren erinnert auch ein Stolperstein vor dem Haus an der Eimsbütteler Chaussee 63 an sie. In den Boden geschlagen wurde er auf Initiative der Gemeinde St. Elisabeth in Harvestehude, deren Mitglieder sich auch durch Spenden an den Kosten beteiligten.
Das sechsstöckige Haus mit dem mächtigen Eingangsportal beherbergte ursprünglich in der unteren Etage Hamburgs erstes festes Kino. Die Familie Kantorowicz zog 1916 in den ersten Stock, wo Ruths Vater Simon, der aus Posen stammte, eine Arztpraxis betrieb. Zuvor lebte er mit seiner Frau Hulda und Tochter Ruth, seinem einzigen Kind, an der Eimsbütteler Chaussee 27. Dort kam Ruth Kantorowicz am 7. Januar 1901 zur Welt.
1906 freundete sie sich bereits mit der neun Jahre älteren Edith Stein an. Stein half damals zehn Monate lang ihrer älteren und bereits verheirateten Schwester Else Gordon im Haushalt und bei der Kinderpflege. Die Gordons hatten damals offenkundig Eheprobleme und lebten am Löhrsweg 5 in Eppendorf. Der Kontakt kam wohl zustande, weil Elsas Ehemann Max Gordon ein Kollege von Simon Kantorowicz war.
Im März 1907 verließ die gebürtige Breslauerin Edith Stein Hamburg freilich wieder in Richtung ihrer Heimatstadt, studierte Psychologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik, wurde erste Assistentin des Philosophen Edmund Husserl, der sie auch promovierte. 1922 ließ sie sich taufen. „Der Versuch der Wissenschaftlerin, sich zu habilitieren, scheiterte in Göttingen, Freiburg und Breslau – wahrscheinlich, weil sie eine Frau und jüdischer Abstammung war“, schreibt Dietrich Rauchenberger in einem Artikel, der auf der Website „stolpersteine-hamburg.de“ zu Ruth Kantorowicz erschienen ist. Der promovierte Historiker, der zudem zur Gemeinde St. Elisabeth zählt, merkt dazu ferner an, dass Ruth Kantorowicz, deren Familie ebenfalls jüdischer Herkunft war, „in bescheidener Weise“ von 1935 an zum umfangreichen Werk Steins beigetragen habe.
Tausende Seiten Manuskript übertragen
Im Vorjahr hatte sich Ruth Kantorowicz ebenfalls taufen lassen, und zwar von dem Jesuitenpater Karl Joppen in der Kirche St. Elisabeth. Ihr ging es damals schlecht. Zuvor war ihre Mutter gestorben, kurz darauf starb ihr Vater. Für ihn war der Übertritt seiner Tochter zum Katholizismus „eine Freude“. So jedenfalls überliefert es Edith Stein in einem Kondolenzschreiben, mit dem die beiden Frauen nach Jahrzehnten ihren Kontakt wieder aufnahmen. Da hatte Kantorowicz bereits Rechtsund Staatswissenschaften sowie Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Hamburg studiert, über „Die Wirklichkeitsnähe nationalökonomischer Theorie“ promoviert und angefangen zu arbeiten. Doch trotz ihrer hohen Qualifikation blieb ihr eine ihren Fähigkeiten gemäße Karriere versagt, nicht zuletzt aufgrund der nach dem Börsencrash 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise und der 1933 folgenden Machtergreifung der Nationalsozialisten. Auch ihr einst gut verdienender Vater war in die Armut abgerutscht. Ihre letzte Stelle trat Kantorowicz 1933 als Kontoristin einer Bleistiftfabrik an, wurde nach sechs Monaten aber entlassen.
Edith Stein war derweil im Oktober 1933 Karmelitin in Köln geworden, wie Dietrich Rauchenberger weiter darlegt. Kantorowicz habe ihr auf diesem Weg folgen wollen und so hätten beide das Weihnachtsfest zusammen in Köln verbracht. Dort verweigerte der Karmel aber die Aufnahme. Stein, die nun den Namen Teresia Benedicta a Cruce trug, kümmerte sich weiterhin um die nun auch physisch schwächelnde Freundin. Nachem sie auch in den Karmel im niederländischen Echt bei Maastricht nicht aufgenommen wurde, gelang es Stein schließlich, Kantorowicz im Ursulinenkloster in Venlo unterzubringen.
Nach der Reichsprogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 floh Stein selbst nach Echt, das nur 40 Kilometer von Venlo entfernt ist. „Für beide begannen nun vier Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit, ohne die das 26-bändige Werk der Philosophin später kaum hätte publiziert werden können. Ruth übertrug in dieser Zeit tausende schwer lesbare Manuskriptseiten der Heiligen mit der Schreibmaschine“, berichtet Dietrich Rauchenberger.
Nachdem der Erzbischof von Utrecht, Jan de Jong, sich von der Nazi-Besatzungsmacht nicht einschüchtern ließ und am 26. Juli 1942 in einem Hirtenbrief gegen die Drangsalierung der Juden protestiert, werden 244 Katholiken jüdischer Herkunft verhaftet. Darunter sind auch Edith Stein und Ruth Kantorowicz. Sie werden schließlich nach Auschwitz deportiert, wo sie gleich nach ihrer Ankunft am 9. August ermordet werden.
Veranstaltungen, die an Ruth Kantorowicz erinnern, sind nicht geplant. Laut Peter Hess, der 2002 das Projekt Stolpersteine nach Hamburg geholt hat und es hier weiterhin koordiniert, soll im Herbst am Löhrsweg 5 eine Gedenktafel angebracht werden, die an Edith Stein erinnert.
Von Matthias Schatz