Straßen-Uni in Frankfurt
„Endlich mal was für den Kopf“
Foto: Barbara Schmidt
Der Aufruf von Papst Franziskus, „an die Ränder der Existenz“ zu gehen, hat Markus Breuer, Leiter der katholischen Erwachsenenbildung (KEB) in Frankfurt, aufhorchen lassen. „Was heißt das für uns?“, fragte er sich. Seine Antwort: „Wir müssen auch Bildung für Menschen anbieten, die – platt gesagt – auf der Straße leben.“ Breuer klopfte dort an, wo Wohnsitzlose tägliches Gegenüber sind, bei den Kapuzinern an Liebfrauen, mitten in der Frankfurter City. Ihr „Franziskustreff“ für Wohnsitzlose ist in der ganzen Stadt ein Begriff. Damals war Bruder Paulus Terwitte noch ihr Leiter – und war sofort begeistert.
Heute ist sein Nachfolger Bruder Michael Wies zweiter Mitstreiter in dem kleinen Team, das hinter der „Frankfurter Straßen-Uni“ steht. Der Name ist Programm, denn Breuer wollte ein „richtig akademisches“ Bildungsangebot, „keine versteckte Sozialberatung“, wie er erläutert. „Wir wollten Bildung im klassischen Humboldt’schen Sinn völlig zweckfrei anbieten.“ Bruder Paulus konnte als weiteren Partner die Polytechnische Gesellschaft gewinnen, eine mehr als 200 Jahre alte Institution in der Main-Metropole, die sich für Kultur, Wissenschaft, Soziales und ein lebendiges Miteinander einsetzt. Mit ihrer Hilfe wollte man den Gedanken der Straßen-Uni „in die Mitte der Stadtgesellschaft transportieren“, so Breuer. Daphne Lipp von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft ist daher heute beim ungewöhnlichen Angebot akademischer Veranstaltungen für Wohnsitzlose mit im Team.
Seit dem Herbst 2019 lädt die Straßen-Uni Jahr für Jahr mit dem Start des Wintersemesters immer dienstags zu Vorträgen und Gesprächen. Was niedrigschwellig im Gemeindesaal von Liebfrauen begann, wurde auch in der Corona-Krise durchgehalten, allerdings mussten größere Räume her. Das Haus am Dom, das sich als für alle offenes Bildungs- und Kulturhaus versteht, wurde neuer Veranstaltungsort. Nein, klein angefangen habe man 2019 nicht, sagt Bruder Michael, „wir haben gleich groß gedacht“. Anspruchsvolle, aktuelle Themen sollten das Programm prägen, für hochkarätige Referenten sorgte die Polytechnische Gesellschaft. Themen waren etwa die Aufgaben der Rechtsmedizin, Change-Management oder Kunst im öffentlichen Raum. Mit Flyern, Plakaten und durch persönliche Ansprache wurde in allen 30 Einrichtungen für Wohnungslose in Frankfurt auf die Straßen-Uni aufmerksam gemacht. „Die Neugier war relativ groß. Der Raum war proppenvoll“, erinnert sich Wies. Heute kommen etwa zwischen 13 und 20 Teilnehmende zu den Veranstaltungen.
„Total überrascht“, habe sie die „starke Beteiligung“ der Teilnehmer, die stets schon nach wenigen Minuten dieersten Fragen stellten, sagt Lipp.„Wirkliche Fragen aus ehrlichem Interesse“, wie Markus Breuer betont. „Da geht es immer um die Sache“. Daher seien es für ihn „die spannendsten Veranstaltungen, die wir haben.“ Daphne Lipp ist der Kommentar eines der ersten Teilnehmer im Gedächtnis geblieben: „Endlich mal was für den Kopf.“ Ein „immens hohes Bildungsniveau“, sieht Breuer bei vielen Teilnehmern. Es könne relativ schnell gehen, in die Obdachlosigkeit zu rutschen, selbst wenn man aus guten Verhältnissen stammt, weiß Bruder Michael durch die Begegnungen im Franziskus-Treff. Ihn rührt es besonders an, wenn jemand mit den Tüten und Taschen, die seine Habe enthalten, zur Straßen-Uni kommt, weil ihn das Thema dort gerade so anspricht, dass er dafür die schwierige Organisation des täglichen Lebens auf der Straße für ein, zwei Stunden unterbricht.
An der Körpersprache sieht er, wie die Teilnehmer regelrecht wachsen, Selbstbewusstsein gewinnen. Auch für die Referenten, oft hochkarätige Experten, die sonst für ähnliche Vorträge hohe Honorare erhalten, hier aber unentgeltlich auftreten, seien es besondere Termine, weiß Daphne Lipp: „Sie sind manchmal aufgeregter, als wenn sie vor 300 Personen sprechen.“ Menschen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen Begegnung zu ermöglichen, hält nicht nur sie für einen besonderen Wert der Straßen-Uni. „Dadurch werden Bilder verändert, Vorurteile abgebaut, das trägt zum Frieden in der Stadtgesellschaft bei“, unterstreicht Markus Breuer. Eine Erfahrung, die alle drei auch machen, wenn es in der „vorlesungsfreien Zeit“ heißt: Straßen-Uni unterwegs. Schirn, Städel, Jüdisches Museum oder auch die Oper haben sie schon mit Wohnsitzlosen besucht. Eine junge Frau habe sich für die Oper extra noch ein Kleid im Second-Hand-Laden gekauft, erzählt Lipp. Sagen zu können, „wir sind mit Bruder Michael hier“, der in Frankfurt wirklich bekannt sei, helfe über die ein oder andere Unsicherheit.
Kapuziner Michael Wies ist bei einem Stiftungstag vor kurzem die Schilderung eines Migrantenkindes unter die Haut gegangen. Es habe berichtet, wie viel es ihm bedeutet habe, von den Mitschülern gefragt worden zu sein: „Willst Du mitspielen?“ Das beschreibe gut, wofür auch die Straßen-Uni stehe: Anderen zu ermöglichen, mitzuspielen. „Man hat so seine Bilder im Kopf. Die werden einfach mal gerade gerückt“, hat der KEB-Chef festgestellt. Daphne Lipp sagt: „Es lehrt mich, demütig zu sein und die Dinge so wertzuschätzen, wie sie sind.“