Erst Schläge, danach Zärtlichkeiten

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Die Studie über sexuelle Gewalt durch Kirchenangehörige in Mecklenburg wurde jetzt in Schwerin veröffentlicht. Sie geht auf die Situation der Kirche in der DDR ein, wirft einen Blick auf die Nachkriegszeit und lässt Betroffene zu Wort kommen. Die geschilderten Szenen gleichen Albträumen. Sie waren aber Wirklichkeit – eine Realität, die niemand wahrhaben wollte.


Laura Rinser, Dr. Judith Streb und Prof. Dr. Manuela Dudeck stellen in Schwerin ihre Forschungsergebnisse vor. | Foto: Andreas Hüser

Sie nannten es „Blut schwitzen“. Einem Jungen wurde der Kopf mit einer Decke eingewickelt. Er wurde an einen Tisch gefesselt und der Mann, ein katholischer Priester, schlug den Jungen mit einem Rohrstock auf das nackte Gesäß. Dieses Ritual dauerte 20 Minuten – in dieser Zeit wuchs die Angst des Kindes. Es wusste nie, wann die Schläge kamen. „Wir wurden an Händen und Füßen wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt“, erinnert sich einer der Jungen, die das erdulden mussten. „Und zum Schluss hat er dich auf den Arm genommen, hat dich umarmt, hat mit dir geschmust und dann fing er an zu stöhnen. Und hat dazu gesagt, ja, er wäre so erregt, weil er mit mir mitleidet. Die Schmerzen, das tut ihm so weh, dass er uns das antun muss.“

Die Jungen fürchteten sich vor den Schlägen. Und sie ekelten sich vor den Liebkosungen des Priesters, bei denen sie bis zum Intimbereich gestreichelt wurden. „Ich wollte nur noch weg, weg, weg!“ Der Junge, der das erzählt, ist heute ein alter Mann. Er gehört zu den 13 Betroffenen, die sich in Interviews im Rahmen der Mecklenburger Missbrauchsstudie geäußert haben. Der Titel der Studie lautet: „Aufarbeitung und Dokumentation des sexuellen Missbrauchs von katholischen Priestern und anderen im Dienst der katholischen Kirche stehenden Personen an Minderjährigen in Mecklenburg von 1946 bis 1989“.

Am 24. Februar stellten die Autorinnen diese Studie nach zweijähriger Forschung in einer öffentlichen Präsentation in der Schweriner Industrie- und Handelskammer vor.

Ausgangspunkt für diese Studie waren die Interview-Aussagen der Betroffenen, die sich dazu freiwillig gemeldet hatten. Befragt wurden auch elf Vertreter der Kirche. Um die Erfahrungsberichte einordnen zu können, hat die Kriminologin Laura Rinser mehr als 1500 Akten studiert. Dazu gehörten Akten der katholischen Kirche, aber auch Unterlagen der Staatssicherheit der DDR.

Was man in der Studie nicht erfährt, sind die Namen der Täter und die Orte des Geschehens. Nur eines deutete Prof. Manuela Dudeck in ihrem Vortrag an: Der in den Medien bisher am meisten erwähnte Ort – gemeint ist Neubrandenburg – war nicht der einzige Tatort.

Priester sah sich als Vollstrecker der Strafe Gottes

Der geschilderte Fall des „Blutschwitzens“ ist ein drastisches Beispiel für Gewalt an Kindern in Kombination mit sexueller Störung und religiösen Phantasien (der Priester sah sich als Vollstrecker der Stafe Gottes). Die Untersuchung listet auch andere Vergehen auf. In einem Fall nutzte ein Priester die Obsternte, um einem Jungen, der auf einer Leiter stand, an die Genitalien zu fassen. Ein anderer zog sich vor einem Jungen aus. „Ich sah, dass er ein steifes Glied hatte.“ „Schlafen in einem Bett“ lautet ein anderer Punkt auf der Liste.

Auffällig ist, so Prof. Dudeck, die lange Dauer der übergriffigen Kontakte – in einem Fall war ein Kind sechs Jahre lang, in einem anderen Fall sogar mehr als acht Jahre lang den Übergriffen ausgesetzt. Auffällig auch: Die Taten fanden nicht nur in privaten Räumen (Badezimmer des Pfarrers) statt, sondern sehr häufig in offen zugänglichen Räumen – wie Religionsunterrichtsraum, Sakristei, in einem Fall sogar im Hauptschiff der Kirche. Die Prügelrituale in der Sakristei bei nicht geschlossener Tür mussten auch anderen Beobachtern auffallen. Manuela Dudeck: „Offensichtlich war es gar nicht nötig, den Missbrauch zu verstecken.“ Zumindest nach den Aussagen der damaligen Kinder waren die Geschehnisse „ein offenes Geheimnis“.

Anlass der Studie speziell für die DDRZeit in Mecklenburg war eine Beobachtung der MHG-Studie von 2018. Von den 33 ermittelten Tätern aus der Region des heutigen Erzbistums Hamburg kommen 16 aus Mecklenburg. Von 103 Betroffenen sind 54 Mecklenburger. Diese hohen Zahlen ließen auf eine besondere Situation schließen. Tatsächlich sind die Forschungen auf „begünstigende Faktoren“ gestoßen. Die katholische Kirche stand in der DDR unter Druck. Die Katholiken fanden in der Kirche eine Insel des Schutzes. „Es wurde nichts verraten, nichts durfte nach außen dringen.“ Die Staatssicherheit spielte eine besondere, aber nicht eindeutige Rolle. Wenn die „Stasi“ Kenntnis von Missbrauchsvorgängen durch Kleriker bekam, versuchte sie in einigen Fällen, den Kleriker unter Druck zu setzen und zur Mitarbeit zu zwingen. Andererseits verfolgte auch das DDR-Ministerium eine Vertuschungs- Strategie. Sexuelle Verbrechen galten im Sozialismus als überwunden, sie wurden folglich verschwiegen. In einem Fall „einigten“ sich Staatssicherheit und kirchliche Verantwortliche auf eine Versetzung eines Täters. Eine rigide Sexualmoral, die einen offenen Umgang mit Sexualität behinderte, hatten beide: Kirche wie SED-Staat.

Ein weiterer „begünstigender Faktor“ war die Situation der katholischen Familien in der Nachkriegszeit. Viele waren Vertriebene, sie waren überfordert, litten unter Mangel, Eltern konnten sich nicht um die Kinder kümmern – und die Kirche bot Unterstützung. Manuela Dudeck: „So war es Klerikern möglich, die Rolle des Vaters zu übernehmen.“ Priester wurden zu Vertrauten der Kinder, sie machten Geschenke, spielten Fußball, holten sie mit dem Auto von der Schule ab. Ein Verhalten, das die Wissenschaftlerin Manuela Dudeck als „Grooming“, als Anbahnungs-Taktik, identifiziert. Die Freundlichkeit war ein Mittel, in die Nähe des Opfers zu kommen und den Übergriff vorzubereiten. Eine weitere Taktik sei der religiöse Druck gewesen: Drohungen mit Hölle, Fegefeuer, „schlechter Sterbestunde“. Rechtfertigung von Misshandlungen: „Du hast gesündigt, du musst bestraft werden.“ Oder die Verpflichtung zur Geheimhaltung: „Das ist eine heilige Sache zwischen uns beiden. Das darfst du niemals jemandem erzählen!“ Tatsächlich blieben die sexuellen Übergriffe an Kindern lange geheim. Die Autorinnen der Missbrauchsstudie sind überzeugt, dass viele Fälle der Kirchenleitung bekannt waren. In Akten und Korrespondenzen finden sich jedoch nur Andeutungen über „unerquickliche Vorgänge“ oder „Vorkommnisse mit den Jungen“.

„Der Bischof hat überhaupt nicht reagiert“

Ein in der Studie zitierter Priester, der die „KZ-Methoden“ seines Amtsbruders ablehnte, alarmierte den Bischof. „Und der Bischof hat sich das angehört, aber überhaupt nicht drauf reagiert.“ Der Täter sei wenige Tage später mit einem Ehrentitel ausgezeichnet worden. Nur in wenigen Fällen gab es Konsequenzen – aber sehr spät. Ein Täter wurde nach erfolglosen Ermahnungen in den Ruhestand versetzt, aber erst sehr spät, nämlich 17 Jahre nach Bekanntwerden der Taten, und unter dem Vorwand gesundheitlicher Gründe.

Zu spät kommt nach Einschätzung von Prof. Dudeck auch die Aufklärung, wie sie schon in den ersten Worten der Präsentation sagte: „Ein Thema, das 60 Jahre zu spät kommt.“ Für die Betroffenen dagegen sei der jahrzehntelang zurückliegende Missbrauch nicht zu Ende. Die körperliche und psychische Gewalt wirke nach. Geringe Anlässe und Eindrücke lassen die Misshandlung wieder aufleben. Das Gefühl, nichts wert zu sein, werden die Betroffenen nicht los. Viele behalten eine Neigung zum Suizid. Und man müsse daher davon ausgehen, dass viele der einst misshandelten Kinder heute nicht mehr lebten.

VON ANDREAS HÜSER