Erinnerung an den Tsunami vor 20 Jahren in Südostasien

"Ich dachte, dass ich gleich tot bin"

Image
Zerstörung nach dem Tsunami 2004 in Südostasien
Nachweis

Foto: kna/Harald Oppitz

Caption

Ein Tsunami zerstörte 2004 Küsten in Südostasien, unter anderem hier in Banda Aceh in Indonesien.

"Rumheulen war noch nie mein Ding", sagt Anke George-Stenger. Vor 20 Jahren verbrachte sie mit ihrem Mann den Weihnachtsurlaub in Thailand - als der zerstörerische Tsunami die Küste traf. Sie überlebte, ihr Mann nicht. Dass sie heute weitgehend glücklich leben kann, liegt auch an einer christlichen Selbsthilfegruppe, die ihr nach dem Unglück half.

Anke George-Stenger hat alles gesammelt von damals: die Fotos, die E-Mails, die Unterlagen des Krankenhauses in Phuket. Die Sachen liegen wohl sortiert in einer Kiste, hoch oben verstaut auf ihrem Schlafzimmerschrank. Ihre Psychologin riet ihr, die Dinge wegzupacken, wenn sie dazu bereit sei - sie aber so aufzubewahren, dass sie jederzeit herankönne, wenn ihr danach sei. Meist überkommt es sie in den Wochen vor Weihnachten. Dann drängen die Erinnerungen hoch, zumal in diesem Jahr, in dem sich die Katastrophe zum zwanzigsten Mal jährt.

"Das Erlebnis, einer solchen Naturkatastrophe ausgesetzt gewesen zu sein, wird mich nie wieder loslassen", schrieb die damals 46-Jährige in einem Beitrag für ihre Selbsthilfegruppe. Und: "Ich lebe selbst wie eine Außerirdische unter den Leuten mit ihren simplen Problemen, die doch auch mal meine waren."

Anke hat den Tsunami überlebt: Vor 20 Jahren, am Morgen des 26. Dezembers 2004, erschütterte ein Seebeben die Küsten Südostasiens. Mehr als 200.000 Menschen kamen in Folge des Tsunamis ums Leben, vor allem Bewohner der Küstenregion, aber auch rund 5.000 Touristen, die dort zu Weihnachten Urlaub machten, darunter mehr als 500 Deutsche. Über 110.000 Menschen wurden verletzt, über 1,7 Millionen Küstenbewohner rund um den Indischen Ozean wurden obdachlos. Ein ausreichendes Frühwarnsystem gab es damals nicht.

Plötzlich war das Wasser komplett weg

Anke ist heute 66 Jahre alt, eine schlanke, sportliche Frau mit dunklem Haar und Brille. Sie erinnert sich genau an den Morgen des zweiten Weihnachtstags. Sie weiß noch, dass sie verwundert mit ihrem Vater und ihrem Mann Eberhard in Badesachen am Strand von Khao Lak stand: Das Wasser war komplett verschwunden. Als sie die Gischtwand am Horizont auftauchen sahen, war es bereits zu spät. Sie rannten um ihr Leben.

Anke sah noch, dass ein Bungalow durch die Kraft der Wassermassen genau über ihrem Mann zusammenbrach, dann hielt sie sich an einer Palme fest, kurz bevor das Wasser über ihr zusammenschlug: "Ich dachte, dass ich gleich tot bin." Als sie wieder auftauchte, sah sie vor sich das Dach eines Gebäudes, darauf saß ein Mann, der ihr eine Latte entgegenhielt - daran zog sie sich hoch. Ihr Fuß war am Knöchel aufgeschlitzt, an einer Hand traten Knochen und Sehnen hervor. Eine dünne Narbe sieht man heute noch.

Anke George-Stenger
Überlebende: Anke George-Stenger
Foto: kna/Nina Schmedding

"Einfach mal weinen und die Tränen laufen lassen" - das habe ihr in der Selbsthilfegruppe am meisten geholfen, sagt George-Stenger. Der mittlerweile verstorbene Pfarrer und Notfallseelsorger Jörg Kluge initiierte kurz nach dem Unglück die Gruppe "Hoffen bis zuletzt" für die Tsunami-Opfer aus Brandenburg und Berlin. Etwa 30 Menschen nahmen damals teil. Sie trafen sich einmal im Monat, erzählten von ihren eigenen schrecklichen Erlebnissen, von der Suche nach ihren Angehörigen, ihrem Bangen und Hoffen.

Warum lässt Gott so etwas zu? "Das hat damals keiner der Betroffenen gefragt", sagt der 68-jährige Pfarrer Peter Paul Wentz, der zusammen mit Kluge und weiteren Notfallseelsorgern und Therapeuten die Betroffenen betreute. "Die hatten in dieser Situation kein Bedürfnis, mit Gott herumzuschachern, so erschlagend war das alles. Die Menschen damals waren in Weihnachtsstimmung, in Urlaubsstimmung. Und mitten in dieses Hochgefühl brach dann diese Hölle über sie hinein."

Zuhören, die Geschichten aushalten können: "Das Wichtigste war, den Mund halten zu können", sagt Seelsorger Wentz. "Was die Gruppe zusammengehalten hat, war die Tatsache, dass sich niemand erklären oder rechtfertigen musste." Einige hätten die Erfahrung gemacht, dass das Umfeld nach gewisser Zeit auf die persönlichen Schilderungen des Unglücks genervt reagiert habe.

George-Stenger reist immer wieder nach Thailand

Anke George-Stenger sitzt an einem grauen Dezembertag in einem Cafe in Berlin-Grünau und erzählt, von sich und "Ebi", ihrem Mann Eberhard, mit dem sie immer viel gereist ist. Im Hintergrund wirbt ein Reisebüro mit einem Plakat für eine Winterreise "in die Sonne". Auch Thailand ist im Angebot.

George-Stenger war oft in Khao Lak, seit dem Unglück. Und sie fährt immer wieder hin. "Das machen viele Überlebende", sagt sie. "Das Land kann ja nichts dafür. Und die Menschen auch nicht." Sie mag die Thailänder, "ihre Freundlichkeit, ihre Leichtigkeit". Sie erzählt von Frauen mit Babys, die sie direkt nach dem Unglück auf Thai trösteten, von Suthep, einem älteren Thai, der damals auf eigene Faust half, sie mit seinem Auto ins Krankenhaus brachte, und anderen privaten Helfern. In Phuket fand sie schließlich ihren Vater wieder. Mit einem Flugzeug wurden sie nach Bangkok gebracht und konnten endlich operiert werden.

Nach dem Tsunami schaffte sie es, mit Therapie, Kur und der Unterstützung von Familie und Freunden, sich wieder zurück ins Leben zu kämpfen. Sie lernte auch einen neuen Partner kennen, ihren Mann Jörg. Als die gelernte Schriftsetzerin und Druck-Technologin vor knapp einem Jahr in Rente ging, sagten ihr viele Kollegen, dass sie ihre freundliche und optimistische Ausstrahlung vermissen würden. Auch Sport habe ihr geholfen - "beim Zumba kann man einfach nicht anders, da muss man lachen".

Leicht war das alles nicht, sagt George-Stenger. "Aber rumheulen war noch nie mein Ding." Sie ist eine starke Frau, hat auch vor dem Tsunami Schwierigkeiten überwunden, als Ost-Berlinerin die Wende gemeistert.

Ein Jahr nach dem Tsunami wurde auf Initiative der Selbsthilfegruppe ein Gedenkstein auf dem Friedhof der Alten Dorfkirche der Berliner Kirchengemeinde Alt-Tempelhof aufgestellt und eine Gedenkfeier für die Tsunami-Opfer aus Berlin und Brandenburg gehalten. Blumen, Lichter und Fotos erinnern dort auch heute noch an die Toten. Auch der Name Eberhard George steht auf der Stele.

Gedenkgottesdienst zum 20. Jahrestag

"Warum bin ich gerettet worden? Das habe ich mich schon gefragt", sagt George-Stenger. "Ich glaube nicht an Gott. Aber irgendetwas hat mich ja trotzdem gerettet. Ich kann nichts dafür, dass ich überlebt habe. Nur dafür, dass ich es geschafft habe, weiterzuleben."

Zum 20. Jahrestag plant die Evangelische Gemeinde Alt-Tempelhof zusammen mit der Notfallseelsorge wieder eine Gedenkfeier. Anke George-Stenger will hingehen. Im Januar fliegt sie dann mit ihrem Mann Jörg wieder nach Thailand. Gebucht hat sie ein Zimmer im obersten Stockwerk des Hotels. "Das wissen die dort schon, dass ich das brauche, um mich sicher zu fühlen."

kna