Die Zehn Gebote in der Bibel
Kurz und göttlich
Die Zehn Gebote sind die wohl berühmtesten Normen für das Leben der Menschen mit Gott und untereinander. Warum haben sie unsere Rechts- und Moralvorschriften bis heute geprägt? Was ist das Besondere an ihnen?
Von Christoph Buysch
Als „Gottes gedrängtes Sittengesetz“ stellte sie Thomas Mann 1943 der willkürlichen und brutalen Herrschaft der Nazis entgegen. Hitler dagegen bezeichnete sie als den „Fluch vom Berge Sinai“. 1997 wiederum prägten sie die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten wie eine Schablone. Sie gehören zu den berühmtesten Zeilen der Weltgeschichte und sind nach der Weihnachtsgeschichte der vielleicht bekannteste Bibeltext überhaupt – und das quer durch alle Religionen und Kulturen.
Doch warum sind diese Zehn Gebote noch bekannter als die meisten Worte Jesu? Was hat sie aus den vielen Gesetzen und Regelungen des Alten Testaments herausgehoben und durch die Geschichte hindurch bestehen lassen, so dass sie bis heute als prägend wahrgenommen werden?
Um das zu beantworten, muss man selbstverständlich zuerst einen Blick in die Bibel werfen, wo sie nicht nur im Buch Exodus, sondern auch noch ein zweites Mal im Buch Deuteronomium zu finden sind. Im Buch Exodus finden sie sich auf dem absoluten Höhepunkt der Offenbarung Gottes an das Volk Israel. Die Kulisse ist imposant: Ein Unwetter hängt über dem Berg Sinai, Donnergrollen liegt in der Luft. Das Volk Israel steht am Fuße des Bergs und hört Gott im Donnergrollen zu den Menschen sprechen. Selbst in der Bibel ist das ein ziemlich einmaliger Vorgang. Üblicherweise spricht Gott durch seine Propheten und wird das auch im Folgenden durch Mose tun.
Eine absolut einzigartige Geschichte
Die Zehn Gebote aber hört das Volk direkt von Gott. Sie werden allen anderen wichtigen Rechtsvorschriften und Gesetzen wie dem Bundesbuch vorgeordnet – und erlangen dadurch erste Aufmerksamkeit. Diese wird im weiteren Verlauf noch gesteigert, indem Gott selbst diese Worte auf Steintafeln schreibt.
Die biblische Erzählung will also die absolute Einzigartigkeit dieser Worte Gottes herausstellen. Und diese wird noch einmal zusätzlich betont, indem die Steintafeln in die Bundeslade gelegt werden, die wiederum im Heiligtum aufbewahrt wird und als Ort der Anwesenheit Gottes gilt. Mehr Hochachtung geht nicht. Wobei zu diesem Zeitpunkt die Tafeln von Gott aber bereits zum zweiten Mal beschrieben worden waren – nachdem Mose sie im Ärger über den Tanz um das Goldene Kalb, das sich Israel als Ersatzgott gemacht hatte, zerstört hatte.
Warum die Zehn Gebote an den Beginn der Offenbarung von Gottes Gesetzen am Sinai gestellt wurden, erschließt sich, wenn man ihren besonderen Charakter betrachtet. Insgesamt zwölfmal steht da: „Du sollst nicht“ – und das klingt leider ziemlich einengend. Aber dieses „Du sollst nicht“ steckt eben auch den ganz großen und weitgefassten Rahmen menschlichen Handelns ab. Was hier aufgeschrieben ist, sind echte No-Gos, Grenzen, ohne deren Akzeptanz jede weitere Rechtsprechung sinnlos erscheint. Wenn man das, was hier steht, nicht grundsätzlich voraussetzen kann, dass Töten, Stehlen und Falschaussagen eine menschliche Gemeinschaft zerstören, dann braucht man über alles andere gar nicht zu reden. Das alles darf auf keinen Fall passieren, wenn das Leben in einer Gemeinschaft gelingen soll.
Demgegenüber stehen aber auch zwei „Du sollst“ in der Mitte des Texts: die Eltern ehren und den Sabbat halten. Sie sind das Fundament des eigenen Lebens – biologisch wie spirituell. Ohne beide ist kein sinnvolles Leben möglich.
Alle diese Regeln sind so zentral für jedes menschliche Leben, dass sie nicht unpersönlich formuliert werden (man, das Volk), wie es auch im israelitischen Recht meist üblich ist. Nein, das „Du“ spricht jede und jeden direkt an, ohne Umschweife.
Lange hat man gedacht, dass diese Zehn Gebote etwas komplett Neues waren, ein revolutionär kurzgefasster Moralkodex für die Welt. Das änderte sich, als man Anfang des 20. Jahrhunderts bei einer Ausgrabung im heutigen Iran eine Steinsäule fand. Auf ihr war eine Sammlung von Rechtssätzen des Königs Hammurabi eingraviert, die Hunderte Jahre älter als die Zehn Gebote waren und doch große Ähnlichkeiten aufwiesen. Heute steht die Stele im Louvre in Paris.
Bei genauer Betrachtung kann man aber einen ganz wesentlichen Unterschied erkennen: Die Zehn Gebote der Bibel sind nicht mehr Regeln, die ein König gibt. Israel hatte mit Königen ja meist kein Glück, wie die Samuel- und Königsbücher im Alten Testament zeigen. Die Zehn Gebote der Bibel kommen vielmehr von Gott selbst. Kein König kann sie verändern oder umdeuten. Und sie haben im Exodusbuch eine Art Vorwort: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“
Freiheit, nicht Ruhe und Ordnung
Hier spricht also kein menschlicher König, der vor allem für Ruhe und Ordnung in seinem Reich sorgen will. Hier spricht Gott selbst, der seinem Volk Grenzen ziehen will, in denen jeder Mensch seine Freiheit leben und bewahren kann. Es geht um Voraussetzungen, nach denen Menschen so frei wie möglich sein, leben und handeln können. Freiheit, nicht Reglementierung – das ist der Kern der Besonderheit der Zehn Gebote.
Insofern ist es nicht ganz zutreffend, wenn sie in der alten Kirche, aber auch bei Martin Luther „so fein und ordentlich gefasst“ als natürliches Sittengesetz gefeiert werden. Sie dienen vielmehr der menschlichen Freiheit und sind dementsprechend nicht von der Natur gesetzt, sondern von Gott geschenkt. Vielleicht trifft Martin Luther es dann auch besser, wenn er sie als „Spiegel unseres Lebens, worin wir sehen, woran es uns fehlt“, bezeichnet.
Bis heute setzt ein sinnvolles Miteinander voraus, dass man die Gebote beherzigt – und doch müssen sie offenbar in unzähligen Rechtsvorschriften ausgedeutet werden. Sie selbst stehen in keinem Gesetzbuch, ihr Geist aber hat so manches geprägt. Deswegen soll der frühere französische Präsident Charles de Gaulle auch gesagt haben: „Die Zehn Gebote sind deswegen so kurz und logisch, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande gekommen sind.“