Jahresserie 2022: Einfach mal die Welt retten
Leben auf engstem Raum: Tiny House
Tiny Houses – ein Inbegriff von Minimalismus. Was reizt Menschen daran, in kleinen, mobilen Holzhäusern zu leben? Ortrun Grill aus Mainz hat konkrete Pläne, sich ein solches anzuschaffen. Bei einem Besuch von zwei Tiny-Häusern im hessischen Trebur erzählt sie von ihrer Vision vom einfachen Leben. Von Anja Weiffen
Ein Kokon aus Holz öffnet sich hinter einer Schiebetür. Was „Normalbürger“ auf 50 Quadratmetern und mehr bewohnen, kann hier mit wenigen Schritten durchquert werden: Küche, Wohnzimmer, Bad. Doch von Engegefühl erst einmal keine Spur. Über dem Kopf ist Luft. Und, wow, wer hat schon eine Wendeltreppe mitten im Wohnzimmer – sie führt direkt in die geräumige Schlafkoje. Von der freistehenden Badewanne mit Blick ins Grüne ganz zu schweigen. Raffiniert versteckt sich der Stauraum, und auch der Fernseher ist erst auf den zweiten Blick zu sehen.
Auf der Hessenaue bei Trebur vermietet Tanja Kirchner zwei Tiny-Häuser als Ferienwohnungen. Winzig, englisch tiny, sind diese Häuser wirklich. Wohnglück auf 7,60 mal 2,55 mal 4 Metern sowie 7 mal 3 mal 4,70 Metern. Das Häuschen mit der Wendeltreppe und der Badewanne haben Tanja Kirchner und ihr Mann selbst ausgebaut. Man könnte es das Modell „Komfort“ nennen. Ein paar Meter weiter auf der Wiese steht das zweite Holzhaus: eher das klassische Tiny House auf Rädern. Ortrun Grill schaut sich neugierig um, fragt Tanja Kirchner nach der Strom- und Wasserversorgung, nach Technik und Baumaßen. Die Mainzerin hat Pläne, in Zukunft in einem solchen Haus zu wohnen. Sie hat Workshops zu Wasser- und zu Strom-Autarkie absolviert und sich inzwischen viel Wissen angeeignet. „Ich finde es spannend, in der Natur zu leben, ohne viel in sie einzugreifen“, sagt die 53-Jährige. Hinter diesem Satz verbirgt sich ein ganzes Lebensprojekt. „Ich versuche, mir viele Tiny Houses anzuschauen, und bin gerade dabei zu überlegen, wie ich diese Idee für mich persönlich umsetzen kann“, erläutert sie. „Eine Basis dafür hätte ich bei guten Freunden in Frankreich. Sie haben ein großes Stück Land mit Wald und See.“ Ausschließlich im Tiny House wohnen oder gar als Einsiedlerin leben, möchte sie aber nicht. „Meine Vorstellung ist eher ein Leben zwischen den Welten.“ Zum Beispiel ein Pendeln zwischen Mainz und Frankreich. Als Fachautorin, Lektorin und Sprecherin ist Ortrun Grill in einer standortunabhängigen Branche tätig. Bereits jetzt arbeitet sie von Zuhause. Und auch ihre Familiensituation ließe eine solche Lebensplanung zu. „Meine Kinder sind bald erwachsen.“
Das Tiny House als Ferienhaus
Auf den Stufen der kleinen Holzveranda vor dem Tiny-House-Klassik-Modell lässt sich die Wintersonne genießen. Der Himmel wölbt sich über die angrenzenden Felder. Hinter der Wiese und der kleinen Straße breitet sich die flache Rheinauenlandschaft aus. Tanja Kirchner erzählt von ihrer Motivation zur Tiny-Haus-Vermietung, die sie auch über die Online-Plattform airbnb anbietet. „Ich wollte etwas im regionalen Tourismus machen. Der Rhein ist hier nicht weit, und auch das Naturschutzgebiet Kühkopf-Knoblochsaue liegt um die Ecke.“ Anfragen bekommt sie von nah und fern. Kürzlich hätten Gäste nur zwei kleine Taschen Gepäck mitgebracht und seien ohne Auto hier gewesen, sogar die letzte Strecke mit dem stündlich fahrenden Linienbus gefahren. „Es geht hier um das Downsizing“, sagt Tanja Kirchner. Also alles mal eine Nummer kleiner.
Tiny House begann vor einigen Jahren in den USA und findet seitdem immer mehr Anhänger auch in Deutschland. Hinter der Bewegung steht ein ganzes Bündel von Sehnsüchten: nach Natur, Einfachheit und weniger Konsum, nach Umweltverträglichkeit, Freiheit und Unabhängigkeit. Ortrun Grill ist sich bewusst, dass sie sich mit ihrer Idee innerhalb einer Trendwelle bewegt. „Dieser Trend wird noch eine Weile andauern. Er trifft genau den Zeitgeist“, stellt sie fest. „Die Menschen hierzulande sind mobil, und die Welt ist für das Reisen offener geworden, etwa auch durch den Schengen-Raum der Europäischen Union. Hierzulande geschieht das natürlich alles mit Netz und doppeltem Boden.“ In den USA sei diese Bewegung eher aus einer Notsituation heraus entstanden, nach der Bankenkrise 2008, als viele ihre Häuser verloren. Die Menschen dort wollten ihren Traum vom Eigenheim doch noch irgendwie verwirklichen. Statt groß dann eben mini und mobil. Und auch in Deutschland helfen Tiny-Häuser Menschen, die zum Beispiel bei der Flutkatastrophe im Ahrtal ihr Zuhause verloren haben, wieder in die eigenen vier Wände ziehen zu können.
"Was ist mir wirklich wichtig?"
Mit dem Kontinent auf der anderen Seite des Atlantiks verbindet Ortrun Grill noch mehr als ein Trend. Speziell mit Kanada. „Mein Vater ist für einige Jahre dorthin ausgewandert, als er 20 Jahre alt war. Er brauchte damals, im Jahr 1951, dafür noch die Erlaubnis seiner Eltern“, weiß sie. Später hatten ihre eigenen Eltern ein Grundstück im Pfälzer Wald. „Dort habe ich – ein Stadtkind – Natur und Freiheit erlebt. Wir hatten eine kleine Hütte, es gab einen Bach, auch Hirsche lebten dort.“ Kindheitserfahrungen, die sie geprägt haben. „Tiny House, das bedeutet für mich auch eine Reise nach innen: Mich selbst kennenzulernen, zu fragen: Was ist mir wirklich wichtig?“, sagt die Mainzerin nachdenklich.
Die perfekte Lösung für die Umweltkrise sieht Ortrun Grill im Tiny House nicht, „dazu ist der Flächenverbrauch trotz Downsizing zu hoch, wenn jeder sein Holzhaus hätte. Aber es ist es wert auszuprobieren, denn wir müssen uns überlegen, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen wollen.“ Sie hat Lust auf eine neue Lebensart, „zu schauen, wie viel ich überhaupt brauche, wo die Probleme liegen, wenn ich einfach und naturverbunden leben will, und wie ich meinen Ressourcenverbrauch selbst steuern kann. Ich möchte die Dinge zu Ende denken.“ In einer heißlaufenden Welt mit vielen Ablenkungen wie Social Media und Medienkonsum empfindet sie ein zeitweiliges Leben in einem kleinen Holzhaus als „Runterfahren des Systems“. „Wer sich um die einfachen Dinge des Lebens kümmert“, ist sie überzeugt, „der kommt zur Ruhe.“
Von Anja Weiffen