Lernen, dass die Kerze heiß ist

Weniger Zeit für Kinder, mehr Dokumente: Der Alltag von Kita-Leiterinnen hat sich enorm verändert, sagt Ursula Schmitz, die 32 Jahre lang in Zornheim den katholischen Kindergarten leitete. Auch andere Entwicklungen regen sie auf. Von Theresa Breinlich.
Im Büro von Ursula Schmitz warten Formulare und Statistiken. Da steht ein Mädchen mit Lockenkopf vor der Leiterin der katholischen Kindertagesstätte „Haus der Großen-Kleinen-Leute“ in Zornheim, einem Dorf südlich von Mainz. „Ich habe mir im Garten den Finger weh getan“, sagt sie und hält Schmitz ihren Zeigefinger entgegen. „Oh je. Zeig mal her“, sagt Schmitz, schaut sich die Mini-Wunde an und streicht tröstend über den Kopf. Für Zahlen ist jetzt keine Zeit.
In normaler Arbeitszeit nicht zu schaffen

Foto: Theresa Breinlich
Seit 32 Jahren ist Ursula Schmitz Leiterin der Kindertagesstätte. Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit der Kirchenzeitung steht sie kurz vor ihrem Eintritt in den Ruhestand. Die Zornheimer Kita trägt seit 2016 das Zertifikat „Familienzentrum“. Mit 115 Kindern und fünf Gruppen ist sie eine der größeren Einrichtungen im Bistum. Dass sie sich mal mit so vielen Vorgaben und Statistiken beschäftigen müsste, hätte Schmitz nicht erwartet. Die Kita hat ein System zur Qualitätssicherung eingeführt, was hilfreich ist, aber auch erfordert, dass unter anderem alle Schritte zur Projektarbeit und zu Mitarbeiterschulungen dokumentiert werden müssen. In der normalen Arbeitszeit ist das nicht zu schaffen.
„Ich habe aber für mich entschieden, dass der Mensch immer an erster Stelle steht. Wenn Eltern oder Kollegen anklopfen und Hilfe brauchen, dann schiebe ich die Papiere beiseite. Ich lasse mir die Zeit mit den Kindern nicht nehmen“, sagt Schmitz. Dazu kommen immer neue Brandschutz- und Hygieneverordnungen. Für die Kinder bedeuten die Maßnahmen weniger Möglichkeiten, die Welt zu entdecken. „Wie sollen die Kinder denn lernen, dass
eine Kerze heiß ist, wenn wir keine anzünden dürfen? Sie sollten lernen mit Gefahren umzugehen“, fügt sie hinzu. Sie handelt deshalb nach der „Zornheimer Lösung“. Alles was sie verantworten kann, wird erlaubt, auch wenn es eigentlich verboten ist, wie ein selbstgebackener Geburtstagskuchen von zu Hause (ohne Sahne) oder eine echte Kerze auf dem Adventskranz, wenn Erzieher dabei sind.
Sorgen bereitet Ursula Schmitz der Personalmangel in den Kitas. Gruppen mit 25 Kindern seien zu groß, besonders da immer jüngere Kinder betreut werden. Für bis zu sechs Zweijährige stehen in einer „Geöffneten Gruppe“ (altersgemischt von zwei bis sechs Jahren) 2,25 Erzieherinnen-Stellen zur Verfügung. Gerade die Jüngsten brauchen aber feste Bezugspersonen, viel emotionale Zuwendung und Rückzugsräume, um mal dem Lärm um sie herum zu entfliehen. „Unsere Erzieher leiden darunter, dass sie oft den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht werden können. Ich sehe aber bei der Politik im Moment überhaupt keinen Willen, die Bedingungen zu verbessern.“
Genug Ganztagsplätze sind wichtig
Eine rundum gute Betreuung sollte Anspruch eines katholischen Familienzentrums sein. Die Idee, für Eltern eigene Angebote zu entwickeln, wie Gymnastik oder Elterncafé, findet Schmitz prinzipiell gut. Doch wichtiger sei es, sich um ausreichend Ganztagsplätze zu kümmern. „Wenn sie ihre Kinder gut aufgehoben wissen, können Eltern ihren Alltag besser organisieren, etwa indem sie mehr Zeit zum Einkaufen haben, und sich dann intensiver um die Kinder kümmern. Mädchen und Jungen ab einem Jahr entwickeln sich gut in der Kindertagesstätte, wenn die Bedingungen stimmen“, meint Ursula Schmitz. Und das wünscht sie sich für die Kinder in einer katholischen Kindertagesstätte, dass sie gut groß werden: „Für mich ist wichtig, dass es jemanden gibt, der mich trägt. Ich wünsche mir, dass die Kinder auch dieses Gefühl bekommen, indem wir ihnen von Gott erzählen, ihnen mit Wertschätzung begegnen und ihnen helfen, dass sie selbstbewusste Mädchen und Jungen werden.“
Zur Sache: 84 Leitungen befragt
Der Verwaltungsaufwand für Kita-Leiter hat in den letzten zehn Jahren enorm zugenommen. Zu diesem Ergebnis kam auch Anfang des Jahres eine Studie der Hochschule Koblenz im Auftrag der Diözesen. Sozialwissenschaftler hatten 84 Leiter katholischer Einrichtungen in den rheinland-pfälzischen Bistümern befragt. Eine Mehrheit gab an, dass sie die Verwaltungsarbeit nicht in ihrer normalen Arbeitszeit erledigen können (57 Prozent). 62 Prozenz gaben an, nicht ausreichende Kenntnisse über Verwaltungsarbeit zu haben. Eine typische Aussage aus den Interviews sei: „Ich bin doch keine Buchhalterin.“ (thb)