Wie ist es, vor dem Krieg geflüchtete Menschen aufzunehmen?
„Man bekommt etwas zurück“
Über eine Million Ukrainer sind seit dem russischen Angriff auf ihr Land nach Deutschland geflüchtet. (Symbolbild) Foto: imago images/NurPhoto |
Es ging dann alles ganz schnell, erzählt Bernhard Kirsten. „An einem Tag im März saß ich mit meinem Bekannten zusammen und besprach unser Vorhaben. Er sagte: Gut, morgen kommt eine Mutti mit ihrem einjährigen Kind. Am nächsten Tag holten wir sie mit dem Auto ab und nahmen sie mit zu uns.“ Bernhard und Martina Kirsten aus dem Landkreis Meißen hatten soeben die Bovalenkos, eine ukrainische Kleinfamilie aus der Stadt Lyssytschansk, bei sich zu Hause aufgenommen.
Die Kirstens heißen eigentlich gar nicht Kirsten, wollen ihren echten Namen aber nicht in der (Kirchen-)zeitung lesen. „Zum einen geht es uns nicht darum, zu prahlen“, sagt Bernhard Kirsten. Zum anderen seien sie derzeit enttäuscht von ihrer Kirche, die Willen zum Fortschritt vermissen lasse. „Aber wir sind und bleiben Christen. Und so haben wir, als wir im Fernsehen sahen, was dort los ist, gesagt: Uns selbst geht es gut, unsere Kinder sind aus dem Haus, wir haben viel Platz – wenn wir Nächstenliebe leben wollen, dann nehmen wir die jetzt auf“, so der 59-Jährige.
Zwei Köpfe, drei Köpfe, vier Köpfe
„Die“, das waren erst einmal nur Mutter Diana, eine Frau Ende zwanzig, und ihre einjährige Tochter Polina. Sie hatten die Fluchtroute über Rumänien genommen. Vater Michailo Bovalenko durfte als Wehrfähiger das Land eigentlich nicht verlassen, schlug sich deshalb mittels Kontakten durch Russland, das Baltikum nach Polen und schließlich Deutschland durch. Gut einen Monat später war er wieder vereint mit seiner Familie.
„Micha ist ein großer Kerl, Anfang dreißig, einsneunzig groß, breite Schultern. Aber als er von seiner abenteuerlichen Reise eintraf, war er ein nur Häufchen Unglück“, sagte Bernhard Kirsten. Weil er zum Anfang weder Deutsch noch Englisch sprach, musste Diana, die gut Englisch kann, viel übersetzen. „Aber insgesamt haben sie sich gut eingelebt.“ Die kleine deutsch-ukrainische Gemeinschaft unternahm Spazierginge, fuhr in den Zoo. „Auch wenn längere Autofahrten so eine Sache waren“, sagt Martina Kirsten. „Denn die kleine Polina schrie immer so lange, bis sie wieder aus dem Kindersitz raus war. Nur bei ihrer Mutter an der Brust ging es halbwegs.“ Wenn die beiden Söhne der Kirstens zu Besuch waren, schauten sie gemeinsam Quizshows im TV, die Übersetzer-App auf dem Smartphone immer nebenher laufend.
Einen weiteren Monat später traf noch mal Zuwachs ein. Oma Svetlana, Michailos Mutter, sollte eigentlich nur für drei Monate zu Besuch bleiben. Doch kurz bevor die Abreise anstand, kam die Hiobsbotschaft. Svetlanas Mann, Opa Boris, war in Lyssytschansk, ihrer russisch besetzten Heimatstadt im Donbass, geblieben. „Wir wissen, dass er ab und zu zur alten Wohnung fuhr, um zu schauen, ob sie von Plünderern verschont geblieben war“, erzählt Gastgeber Bernhard Kirsten. Direkt neben dem Wohnblock befindet sich ein Militärgebäude, das nach der Eroberung von den Russen genutzt wurde. Dort hatte er sein Auto abgestellt. Und dort schlug die Rakete, dem Anschein nach eine ukrainische, ein.“ Kurz nachdem der Totenschein in Deutschland eintraf, folgte die Bestattung, wegen der Kriegssituation ohne Trauerfeier.
Mehr noch als durch die Abendnachrichten war der Krieg nun endgültig im Wohnzimmer der Kirstens angekommen. „Die Witwe litt natürlich extrem unter dem Verlust ihres Partners, zumal in fremder Umgebung“, so Bernhard Kirsten. Dennoch habe sie sich entschieden, in Deutschland zu bleiben. In der Ukraine war ihr fast nichts mehr geblieben. Wegen der privaten Unterbringung bei den Kirstens konnte sie – anders als viele andere ukrainische Flüchtlinge – vor Ort bleiben, wurde nicht in ein Aufnahmelager anderswo geschickt. „Svetlana ist eine Frau mit beiden Beinen im Leben, ist intelligent, selbstbewusst. Sie nimmt die Dinge in die Hand, geht regelmäßig ins Sprachcafé“, sagt Martina Kirsten. Die Ukrainerin wohnt weiter bei ihnen, während Michailo, Diana und die kleine Polina im August eine eigene kleine Wohnung ganz in der Nähe bezogen haben. So können sie sich oft sehen und Zeit miteinander verbringen.
„Wir würden es wieder tun“
Auch der Kontakt zwischen den Bovalenkos und Kirstens ist geblieben. Die gemeinsame Zeit unter einem Dach hat sie zusammengeschweißt. Wenn sie sich nicht besuchen, tauschen sie Nachrichten aus, die jungen Eltern schicken Fotos von der schnell wachsenden Polina.
Ob sie es noch einmal machen würden, eine geflüchtete ukrainische Familie bei sich aufzunehmen? „Auf jeden Fall“, sagt Bernhard Kirsten sofort. Ehefrau Martina stimmt zu, mit einer kleinen Einschränkung: „Ich würde beim nächsten Mal klarere Regeln aufstellen.“ Mitunter hätte sie sich mehr Hilfe im Haushalt gewünscht, etwa bei den Einkäufen. Mühe habe sich in dieser Hinsicht vor allem Michailo gegeben. Zu streng möchte die Gastgeberin aber auch nicht sein. „Ich wüsste ja nicht, wie ich mich in ihrer Situation verhalten würde. Ich habe großen Respekt vor der Frau. Sie hat sich auf die Flucht begeben und dabei ihr Kind gestillt, kam mit einer kleinen Tasche bei uns an. Immer ohne zu wissen: Wie geht es meinem Mann?“
Da fällt Bernhard Kirsten noch ein ganz besonderer Abend ein: „Als wir einmal nach der Arbeit nach Hause kamen, war der Abendbrottisch schon ganz liebevoll gedeckt. Micha war gerade mit dem Staubsaugen fertig geworden, Diana hatte leckeren Borschtsch gekocht und dazu Pelmeni gebacken. Ein tolles gemeinsames Abendessen.“ Er erinnert sich auch, wie er ein paar Tage krank war und sich Michailo um ihn kümmerte, ihm Erbsen und Linsen brachte. Momente wie diese, sagt Martina Kirsten, haben ihrem Mann und ihr gezeigt: „Es ist nicht so, dass man nur gibt – man bekommt auch etwas zurück.“
(schi)