Franz-Josef Otto hilft als Notfallseelsorger
Manchmal hilft nur Schweigen
Foto: Patrick Kleibold
„Die Tür geht auf und vor mir steht eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm.“ Franz-Josef Otto hält inne, bevor er weiterspricht: „Dieses Bild werde ich nie vergessen!“ Die Mutter und ihre insgesamt drei Kinder hatten auf den Ehemann und Vater gewartet. Doch er kam in dieser Nacht nicht nach Hause und würde auch nie mehr zu seiner Familie zurückkehren. Bei einem Verkehrsunfall war er ums Leben gekommen. Als Notfallseelsorger begleitete Otto die Polizeibeamten, die gegen Mitternacht die Todesnachricht überbrachten.
Seit der Gründung der Notfallseelsorge in Paderborn vor 26 Jahren ist der heute 69-Jährige dabei, doch dieser Einsatz ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben: „Auf Bitten der Frau bin ich in den frühen Morgenstunden noch zu den Eltern ihres Mannes gefahren und habe sie ebenfalls informiert.“ Die junge Mutter war mit der Situation völlig überfordert und bat Otto schließlich, noch einmal wiederzukommen, um es ihren Kindern zu sagen: „Sie konnte es einfach nicht.“
Dass ein Notfallseelsorger so lange bleibt, ist die Ausnahme: „Wenn Angehörige oder Freunde informiert sind und kommen, kann man sich meistens verabschieden. Wichtig ist, dass jemand da ist.“ Dass Menschen in Ausnahmesituationen allein gelassen wurden, war ein Anlass für die Gründung der Paderborner Notfallseelsorge, erzählt Otto: „Die Polizei und die anderen Einsatzkräfte können nicht lange bleiben.“ Das sollten Ehrenamtliche mit einer entsprechenden Ausbildung übernehmen.
"Irgendwie habe ich gespürt, dass diese Aufgabe etwas für mich sein könnte."
Franz-Josef Otto arbeitete damals als Fachkrankenpfleger auf der Intensivstation des Paderborner St.-Vincenz-Krankenhauses. „Jemand sprach mich an, ob ich Interesse hätte.“ Umgang mit Tod und Trauer waren ihm durch seine Arbeit vertraut. „Irgendwie habe ich gespürt, dass diese Aufgabe etwas für mich sein könnte.“
Immer wieder schaut Otto während des Gesprächs durch die großen Fenster seines Wohnzimmers nach draußen. Der wunderschöne Garten ist sein Rückzugsort, wenn Einsätze besonders belastend waren. „Dann sitze ich einfach nur ruhig auf einer Bank, manchmal stundenlang.“
Nach mehr als einem Vierteljahrhundert im Dienst ist vieles zur Routine geworden, wenn der Melder piept. „Man zieht sich die Jacke über, nimmt den Koffer, steigt ins Auto und fährt zur angegebenen Adresse.“ Unterwegs, so Otto, überlege er manchmal, was ihn erwarte: „Doch dann ist alles ganz anders, jeder Einsatz ist speziell.“
Der Paderborner erinnert sich noch gut an die Diskussionen bei der Gründung um die Frage: Wie nennen wir uns? „Seelsorge wurde immer sofort mit Kirche in Verbindung gebracht, da gab es Bedenken.“ Doch schließlich seien sich alle einig gewesen: „Wir nennen uns Notfallseelsorger, weil wir genau das machen: Wir tun etwas für die Seele.“
Ein etwas ramponierter Alukoffer ist ebenfalls seit 26 Jahren dabei. Darin ist alles enthalten, was beim Einsatz gebraucht wird, auch ein Gebetbuch. „Doch das wird nicht so oft ausgepackt“, sagt Otto. „Wenn es den Wunsch nach einem Gebet gibt, dann formuliere ich das meistens frei.“
Einen Großteil seiner Motivation schöpft Otto aus seinem Glauben, da ist der Notfallseelsorger so etwas wie ein typischer Ehrenamtler aus dem kirchlichen Dunstkreis. Er war im Pfarrgemeinderat aktiv, hat sich in vielen anderen Ämtern engagiert und gehört aktuell noch zum Vorstandsteam beim Kolping-Bezirksverband. Otto selbst fasst es so zusammen: „Mein Glaube ist immer Teil meines Lebens gewesen.“
Und gerade deshalb ist es für ihn wichtig, mit diesem Thema vorsichtig umzugehen und nicht mit „pseudoreligiösen Phrasen um die Ecke zu kommen“. „Beim Einsatz bin ich kein Vertreter der Kirche.“
Der Notfallseelsorger ist fest davon überzeugt, dass Gott „dieses Elend und diese Not“ nicht will, sagt er mit Blick auf Schicksale wie das der jungen Mutter: „Er will nicht, dass Menschen scheinbar sinnlos sterben, dass die Familie und Freunde Tragödien erleben!“ Er fügt hinzu: „Und Gott ist dafür auch nicht verantwortlich.“ Gott sei nicht derjenige, der den Menschen „einen Strich durch die Rechnung“ mache.
"Total falsch wäre es, mit ausgestanzten Worthülsen vorgeblich trösten zu wollen."
Das Warum, die Frage nach einem Sinn, stehe trotzdem immer im Raum, gibt der Paderborner zu: „Wenn von einem Augenblick auf den nächsten ein Mensch aus dem Leben gerissen wird, seine Angehörigen plötzlich ins Bodenlose zu stürzen drohen, dann hat man dafür keine Erklärung.“ Das sei auch nicht schlimm. „Total falsch wäre es, mit ausgestanzten Worthülsen vorgeblich trösten zu wollen.“
Dann müsse man schweigen, zuhören – „einfach bei den Menschen sein“. Otto erzählt von einem Einsatz nach einem misslungenen Suizidversuch: „Stundenlang habe ich mit der Ehefrau in der Küche gesessen, habe einfach nur zugehört.“ Sie habe außerhalb ihrer Familie niemanden gehabt, mit dem sie darüber habe sprechen können: „Die Frau hat mir die ganze Nacht von ihrem Leben und dem damit verbundenen Leid erzählt.“
Während manche Ereignisse verblassen, sind andere dem Notfallseelsorger auch noch nach vielen Jahren präsent. Im Jahr 2009 kam es bei einem Feuerwehreinsatz in der Nacht auf Karfreitag zu einem schweren Verkehrsunfall: Ein Taxi rammte an einer Ampel eine Drehleiter. Vier Menschen starben, sechs wurden schwer verletzt.
Bei dieser als „Karfreitagsunfall“ noch heute in Paderborn bekannten Katastrophe war Otto ebenfalls vor Ort. Nachdem der Einsatz am Morgen beendet war, fuhr er nicht wie gewohnt nach Hause, auch wenn er „völlig fertig“ war. „In dieser Situation hat mich mein Auto fast automatisch zu einer Kirche gebracht.“ Er habe diesen Ort gebraucht, sagt er: „Nur dort konnte ich einigermaßen wieder zur Besinnung kommen.“ Um mit solchen belastenden Situationen klarzukommen, gibt es außerdem regelmäßige Supervision und den Austausch untereinander: „Wir Notfallseelsorger werden ebenfalls nicht allein gelassen.“
„Vielleicht habe ich den Absprung irgendwie verpasst“, sagt Franz-Josef Otto angesichts der Tatsache, dass er seit der Gründung der Notfallseelsorge dabei ist. Aber eigentlich sei diese Aufgabe genau das, „was ich noch machen möchte“.