"Frankfurt liest ein Buch" – wir lesen mit

Mit Martin Mosebach in Frankfurts "Westend"

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Martin Mosebachs Roman „Westend“ steht derzeit im Mittelpunkt von „Frankfurt liest ein Buch“. „Westend" erschien zuerst im Jahr 1992, wurde seinerzeit nicht viel beachtet und feiert jetzt bei „Frankfurt liest ein Buch" wundersame Auferstehung. Ruth Lehnen hat die 895 Seiten gelesen.

Autor aus Frankfurt: Martin Mosebach Foto: Hagen Schnauss

 

Als Mosebachs Roman „Westend“ zuerst erschienen ist, schrieben wir das Jahr 1992, es war das zehnte Jahr der Kanzlerschaft Helmut Kohls, das zweite Jahr nach der Wiedervereinigung, die Zeit, als Andreas von Schöler Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt war. Martin Mosebach war 41 Jahre alt. Sein Opus magnum war wie aus der Zeit gefallen und scheint relativ spurlos an den Lesern im wiedervereinigten Deutschland und in seiner Heimatstadt Frankfurt vorübergegangen zu sein. Jetzt aber feiert es Auferstehung: Vom 6. bis 19. Mai steht der Roman im Mittelpunkt des städtischen Lesefests "Frankfurt liest ein Buch"; Lesungen, Stadtbegehungen auf den Spuren des Buches, Rundfunkbeiträge. "Frankfurt liest ein Buch" holt das 27 Jahre alte Buch zurück auf die literarische Bühne, und das ist gut so.

Ja, es ist gut so, obwohl es jede Menge Einwände gegen das Buch gibt: Ist es nicht… gewunden? Ist es nicht … gestrig? Ist es nicht … elitär? Doch, das kann man so sehen. Aber es beschert ein großartiges Lesevergnügen, und darum allein geht’s.

Die Hauptfigur ist eine Straße: die Schubertstraße im Frankfurter Westend


Mosebachs an Figuren reicher Roman hat eine Hauptfigur: die Schubertstraße im Frankfurter Stadtteil Westend. Diese Schubertstraße und die umgebenden Straßen sind ein Kosmos, die der Autor mit langem Atem besingt, und der Leser lernt sie zu lieben. Die Schubertstraße mit den Verwundungen des Zweiten Weltkriegs, mit den hinter Vorgärten verborgenen kleinen Villen, mit ihren Bewohnern wie den unvergesslichen Tanten Labonté, mit den Fenstern der Christuskirche, die zur Erzählzeit noch eine Ruine ist, und mit den Verheerungen, die die neuere Stadtplanung der Straße angetan hat. Der Autor Mosebach geht mit seinen Figuren, den Menschen im Roman, recht scharf ins Gericht. Seine Schubertstraße aber liebt er, auch wenn sie im Lauf der Zeit viel mitmacht. Alfred, der Letzte der Labontés, ist in dieser Sache sein Alter ego: „Er hatte die Straße ganz und gar besessen und konnte sie nicht mehr verlieren.“

Mosebachs Roman ist ein Erinnerungsprojekt, er setzt mit seinen Worten seinem alten Frankfurt ein Denkmal. Dazu fächert er die sozialen Gegebenheiten kunstvoll auf. Es treten auf: Der reiche Erbe Dr. Eduard Has, zum Kunstsammler berufen, der trockene Geschäftsmann Fred Olenschläger, der die verträumte Schubertstraße zu einem Teil einer gläsernen Megacity machen will, Etelka Kalkofen, eine Schöne, die unter ihrem blonden Haarknoten gebeugt die Straße auf hohen Absätzen mehr durchwankt als durchwandert, die Zwergin (mit solchen Wörtern hat Mosebach 1992 kein Problem, und überhaupt ist er ein Mann, der sich um political correctness nicht schert), die Zwergin Scharnhorst, die mit ihrem Schrubber bewaffnet eine Art Schubertstraßenspionin darstellt, und noch viele mehr. Sie alle bilden ein menschliches Panoptikum nach dem Motto: die Schubertstraße ist die Welt und die Welt ist die Schubertstraße. Es ist außerordentlich unterhaltsam, von ihnen zu lesen, wenn man sich erst einmal auf Mosebachs Stil eingelassen hat.

Westend: ungewöhnliche Wörter, hochkomisches Buch


Mosebachs Stil: Da sind zunächst die langen Sätze, die nach überraschenden Windungen doch meist kunstvoll zu einem Ende finden, manchmal aber auch nur die Kunstfertigkeit des Autors vorführen. Da sind die ungewöhnlichen Wörter. So lernt man zum Beispiel das Wort „kaustisch“ kennen: In der Chemie hat es was mit scharf und ätzend zu tun, „bildungssprachlich“ heißt es „sarkastisch, spöttisch“. „Kaustisch“ ist im Roman der trockene Fred Olenschläger, Repräsentant der „Verwaltung“, die viel mehr Leben entfaltet, als man einer juristischen Person zugetraut hätte. „Kaustisch“ ist aber auch der Blick des Erzählers, der seine Figuren und ihre Beweggründe in die Säure genauester Betrachtung taucht; ein Verfahren, das viel Komik freilegt. Mosebachs Buch ist ein hochkomisches Buch.

Der Roman nimmt sich alle Zeit der Welt, was heute ein wenig gestrig wirkt. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Frankfurter Schüler des Jahres 2019 durch die 894 Seiten lesen. Aber kann das ein Einwand gegen das Buch sein? Für die Tapferen, die sich in Mosebachs „Westend“ wagen, gibt es es viel Bonusmaterial. Zum Beispiel für den geneigten katholischen Leser: Es ist fast eine Manie Mosebachs, alltägliche Beobachtungen mit der christlichen Sphäre zu verknüpfen. So sind die Schwestern Labonté bei ihm „atheistische Beginen“, bei Gesprächen benimmt sich einer wie ein erfahrener Beichtvater, der junge Alfred beschließt, seine große Liebe Lilly zu ertragen, wie „ein Mönch bei der Feier seiner ewigen Gelübde auch in die trockenen Zeiten seiner künftigen Askese freudigen Herzens einwilligen zu können glaubt“. Und so weiter. Sehr zu empfehlen sind die herrlichen Beschreibungen von Erstkommunion und Beerdigung, die der Roman enthält, und die mehr sagen über den dem religiösen Ritual entfremdeten Großstadtbürger als etliche Milieustudien zusammengenommen.

Noch mehr Bonusmaterial hält Mosebach für Kunstkenner bereit, indem er sich gern über die expressionistische Kunstsammlung des Eduard Has lustigmacht. Hängt doch bei dem ein „Letztes Abendmahl“ von Emil Nolde überm quergestellten Ehebett, auf dem sich „Apostel mit quittegelben Kasperleköpfen“ zanken.

Martin Mosebach, der mit flammenden Plädoyers für die „Alte Messe“ und zuletzt mit einer gezielten Provokation gegen Papst Franziskus aufgetreten ist, ist auch als Autor mit Vorsicht zu genießen. Aber zu genießen ist er.

Martin Mosebach: Westend, Rowohlt-Verlag, 895 Seiten, 20 Euro

Zitiert: Eduard Has plädiert für Frankfurt

„Ja, wo sollen wir denn sonst wohnen?“ „Sollen wir etwa die johlende Vulgarität in Köln aushalten oder die angemaßte Weltläufigkeit von Düsseldorf? Willst du, daß wir in Hamburg sitzen, unter gehemmten Kaufleuten, die Buddenbrooks spielen? Sollen wir nach Stuttgart zu den geizigen Sektenmitgliedern ziehen? Oder nach München, diesem kolonialen Krebsgeschwür mitten unter den Dorfdeppen? Oder nach Berlin, dieser Proletensiedlung in der Sandwüste? Oder etwa…“ und hier richtete er sich, von seiner rhetorischen Leistung in den Zustand heiterster Zufriedenheit versetzt, im Liegestuhl auf und fand seine Pointe: „in dein verwestes, verfaulendes Wien?“ (Westend, Seite 535)

Ruth Lehnen