„Tauchgang“ ins Deutsche Requiem

Schmerzen laut herausschreien

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Ein „Tauchgang“ ins Deutsche Requiem: Die Theologin Teresa Schweighofer sieht im Chorwerk von Johannes Brahms eine mustergültige Trauerbewältigung. Das abwechslungsreiche Werk thematisiere die reiche Palette von Gefühlsregungen angesichts des Todes.

Kneipen-Talk zur Trauerbewältigung: Peter Gößwein, Teresa Schweighofer und Katrin Visse (von links).
Foto: Joachim Opahle

 

Es ist schon eine besondere Erfahrung, wenn sich an einem Mittwochabend rund 50 Interessierte in der engen und urigen Kneipe „Club der polnischen Versager“ in der Berliner Innenstadt zusammenfinden, um ganz zwanglos – mit einem Bierchen in der Hand – über das Thema „Tod, wo ist dein Stachel?“ ins Gespräch zu kommen. Katrin Visse, Mitarbeiterin der Katholischen Akademie in Berlin, und ihr Counterpart Peter Gößwein laden regelmäßig zu solchen „Tauchgängen“ ein. Theologen, Künstlerinnen, Philosophen oder Schriftstellerinnen waren schon zu Gast und haben über Gott und die Welt nachgedacht – im lockeren Plauderton, aber durchaus mit Tiefgang.

Tod und Sterben wieder mehr im Bewusstsein
Mit Professorin Teresa Schweighofer, Dozentin für Praktische Theologie am Zentralinstitut für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, war jüngst eine erfahrene Seelsorgerin und Expertin in Sachen Trauerbewältigung zu Gast im Tauchgang-Talk über „Tod, wo ist dein Stachel?“. Angesichts der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und des Krieges in der Ukraine sind Tod und Sterben wieder mehr ins Bewusstsein gerückt, gab sie zu bedenken. Trauerrituale würden auch in einer säkularen Gesellschaft stark nachgefragt, wie man am wachsenden Markt freier Trauerredner ablesen könne. Entscheidend für deren Erfolg sei dabei, die Hinterbliebenen „angemessen zu trösten, keinesfalls zu ver-trösten“.

Deckblatt der Partitur des Requiems, Leipzig, C.F. Peters (Verlags-Nr. 10260), ca. 1940.

Wie das gelingen kann, machte sie anhand von Hörbeispielen und Bemerkungen zum Deutschen Requiem des Komponisten Johannes Brahms deutlich, einem Chorwerk der deutschen Romantik. Darin ist es nach Ansicht der Theologin mustergültig gelungen, die Frage nach dem Umgang mit Trauer und Sterben in musikalischer Weise zu illustrieren. Das Chorwerk mit seinen wuchtigen und unerbittlich schreitenden Märschen, verhalten klagenden Passagen und dramatischen Laut-Leise-Wechseln lade dazu ein, die reiche Palette von Gefühlsregungen der Trauer zum Ausdruck zu bringen: Da geht es etwa um den Sinn des Leidens, wenn es heißt „Selig sind, die da Leid tragen“, um das nüchterne Eingeständnis der Endlichkeit im ungestümen zweiten Satz „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, um die Suche nach Lebenssinn, die tiefe Trauer und das Aufbegehren gegen das Sterben. Ferner wird die biblische Hoffnung auf Auferstehung am Ende aller Tage thematisiert und schließlich um die beseligende Vorstellung vom Wiedersehen im Paradies mit der anheimelnden Überzeugung einer endgültigen Geborgenheit bei Gott.
Beim Apostel Paulus reiche die Souveränität gegenüber dem Sterben sogar so weit, dass er den Tod geradezu verspotte, wenn der Text des Requiems aus dem Ersten Korintherbrief zitiert „Tod, wo ist dein Sieg?; Tod, wo ist dein Stachel?“ (1. Korintherbrief 15, 55). Eine solche Haltung, die den Tod geradezu verlacht, sei jedoch nicht herstellbar. „Sie muss mir geschenkt werden“, unterstrich Schweighofer. Wichtig sei, dass den Hinterbliebenen die Möglichkeit eröffnet werde, Gefühle der Anklage zuzulassen und die Trauer „laut herauszuschreien“. „Ich wünsche mir eine Schrei-Kirche, wo man auch mal fluchen und schluchzen kann“, so die Theologiedozentin.

Zu schnulzig und lieblich?
In Anmerkungen und Einwürfen aus dem Publikum wurde gefragt, ob nicht manche Passage des romantischen Requiems, etwa im letzten, ätherisch filigranen Satz, „zu schnulzig und zu lieblich“ ausgefallen ist und damit dem Ernst des Sterbens nicht gerecht wird. Johannes Brahms, der mehr als zehn Jahre an seinem Requiem gearbeitet hat, hätte darauf vielleicht geantwortet, dass sein Werk keine liturgische Totenmesse sein will, sondern vor allem dem Trost „derer, die da Leid tragen“ dienen soll.
So ging ein nachdenklicher Kneipen-Abend zu Ende mit vielfältigen Anregungen und einer Stimmung, die Clara Schumann, die mit Brahms eine intensive Brieffreundschaft verband, so in Worte fasste: „Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend. Ich ... empfinde den ganzen reichen Schatz dieses Werkes bis ins Innerste, und die Begeisterung, die aus jedem Stücke spricht, rührt mich tief.“

Als Audio-Podcast kann man die abendlichen Gespräche auch im Nachhinein im Internet aufrufen: www.anchor.fm/tauchgaenge

Von Joachim Opahle