Polarnacht in Nordeuropa

Sehnsucht nach dem ersten blassen Licht

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Polarlicht in Norwegen
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Foto: istockfoto/Swen Stroop

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Im Norden Europas sind Polarlichter besonders oft zu sehen. Foto: istockfoto/Swen Stroop

Gemeinschaft und Einfallsreichtum helfen den Menschen in den nordischen Ländern, gut durch die lange Polarnacht zu kommen. Für die Karmelitinnen in Island ist aber nicht nur der Winter herausfordernd.

In Utsjoki im äußersten Norden Finnlands dauert die längste Nacht 54 Tage. Und selbst wenn sie zu Ende geht, zeigt sich die Sonne nur kurz. Schwer zu sagen, ob sie auf- oder untergeht. Die Polarnacht, auf Finnisch kaamos, ist der Zeitraum der Winter-Tag-und-Nacht-Gleiche, das heißt, die Sonne steigt zu keinem Zeitpunkt des Tages über den Horizont. Das Licht ist dann bestenfalls eine düstere Reflexion der Sonnenstrahlen in höheren Schichten der Erdatmosphäre – wobei das Mondlicht oft vom Schnee reflektiert wird und je nach Tageszeit verschiedene Blautöne erzeugt. 

Passender als mit Bluesmusik kann man die dunkle Jahreszeit nicht einläuten. Kaum ist es dunkel geworden über den zerklüfteten Bergen der Inselgruppe Spitzbergen im Nordpolarmeer, kommen die Musiker. Vier Tage lang ist dann Bluesfestival in Longyearbyen, Europas entlegenstem Außenposten in der Arktis. „Dark Season Blues“, die nördlichste Bluesfete der Welt, markiert das Ende des Sonnenscheins und den Beginn einer lichtarmen Zeit. 

Schon im Oktober wirft die Sonne ihre letzten Strahlen des Jahres auf die bizarre Eislandschaft aus Fjorden und Gletschern. Für knapp drei Monate herrscht an der kalten Küste Norwegens nun dunkle Nacht. Ziehen auch noch Nebelschwaden und Schneefall auf, wie das auf der Inselgruppe am Rand des Golfstroms häufiger vorkommt, helfen nur künstliche Lichtquellen, um nicht vollends die Orientierung zu verlieren. An klaren Wintertagen jedoch, mit bester Hochdruckwetterlage unter Vollmond und Sternenhimmel, erlebt man womöglich jenes wunderbare Schauspiel, das die Polarnacht so einzigartig macht: den Moment, wenn ein schillerndes Nordlicht minutenlang tanzend am Firmament steht.

Die langanhaltende Dunkelheit fordert die Menschen heraus. Es ist, so beschreiben sie es, als müsste man ständig mitten in der Nacht aufstehen, obwohl es doch längst Morgen ist. Um das zu überstehen, braucht man einen Wecker – und gute Freunde, mit denen man enger zusammenrückt. Man trifft sich zu Hause oder im Pub, trinkt etwas, redet miteinander, spielt Gesellschaftsspiele.

Karmelitinnen in Island
Karmelitinnen im Garten ihres Klosters in Hafnarfjördur in Island. Foto: Anja Sabel

Dunkelheit macht auch erfinderisch. In fast allen Büros stehen Tageslichtlampen. Sogar Bushaltestellen sind damit ausgestattet. Hotels verfügen über Zimmer mit Lichtkuppeln an der Decke, damit die Gäste nachts in den Sternenhimmel schauen können. Oder aber man geht in ein Lichtcafé. Strahler an der Decke, exotische Drinks am Tresen – so gibt es die Extraportion Sonne im Winter. 

Im norwegischen Rjukan hieß es vor zehn Jahren: Es werde Licht! Bis dahin sahen die Einwohner des von Bergen umgebenen Skiorts von September bis März keine Sonne. Außer, sie ließen sich mit Seilbahnen auf die Berggipfel bringen. Keine Option im 21. Jahrhundert. Jetzt reflektieren drei gigantische, von Computern gesteuerte Spiegel den Sonnenschein ins Tal und bereiten dem Schattendasein ein Ende.

Licht tut gut, ein geschenktes Licht kann trösten

Der Mensch braucht den Wechsel von Tag und Nacht. Unsere „innere Uhr“ – eine erbsengroße hormonproduzierende Drüse im Gehirn – steuert ihn. Das hat Einfluss darauf, wann wir Hunger haben, wann wir besonders leistungsfähig sind oder wann wir müde werden. Diese innere Uhr orientiert sich vor allem am Licht und mit Hilfe von Informationen aus unserer Umwelt. Die wichtigste Rolle im Schlafprozess spielt das Hormon Melatonin. Es lässt uns müde werden und einschlafen. Gerade das Melatonin wird durch Licht gesteuert: Ist unsere Umgebung hell erleuchtet, wird seine Produktion unterdrückt. Gegen Morgen vertreibt der „Wachmacher“ Cortisol das Melatonin aus dem Körper. Tagsüber ist neben dem Cortisol vor allem das Serotonin aktiv. Bekannt auch als das körpereigene „Glückshormon“, hebt es unsere Stimmung, wirkt entspannend und hemmt die bewusste Wahrnehmung von Schmerzen. 

Licht tut gut, ein geschenktes Licht kann trösten und Hoffnung schenken, und es braucht immer wieder auch Menschen, die unser Leben heller machen. Die heilige Lucia war so ein Mensch, ihr Fest fällt genau in diese dunkle Jahreszeit. Lucia war eine junge Frau, die 281 auf Sizilien als Tochter einer reichen Familie geboren wurde. Sie gründete Armen- und Krankenstationen und versorgte die in Verstecken lebenden Christen mit Lebensmitteln. Damit sie beide Hände frei hatte zum Tragen der Speisen, setzte sie sich einen Lichterkranz aufs Haupt, um in der Dunkelheit den Weg zu finden.

In Island ist nicht nur der Winter herausfordernd, sondern das Wetter im Allgemeinen. Das bekommen die Karmelitinnen in Hafnarfjördur nahe der Hauptstadt Reykjavik besonders zu spüren. Im Südwesten der Insel, wo sich das einzige katholische Kloster des Landes befindet, jagt ein Tiefdruckgebiet das nächste. Das Wetter ist sehr wechselhaft, im Winter gibt es starke Stürme, und es fallen unglaubliche Regenmengen. „Die meiste Zeit des Jahres sehen wir keinen blauen Himmel, sondern nur dichte Wolken, durch die kaum Tageslicht dringt“, berichtet eine der 13 polnischen Ordensfrauen. Sie lebt seit über 30 Jahren in Island – ohne einen einzigen Tag Urlaub und ohne ihr Kloster jemals verlassen zu haben. 

Wie halten die Schwestern das aus? Der Glaube gibt ihnen Kraft. Sie sagen: „Für keine von uns war Island das Land der Träume, aber jetzt ist es das Land, in dem wir nach Gottes Willen leben und für das wir beten. Wir nehmen sowohl die Schönheit als auch die Herausforderungen dieses Landes in dem Glauben an, dass Gott nichts gibt, was nicht letztendlich Früchte trägt.“ 

Niemand muss uns ermutigen, draußen zu beten.

Natürlich achten die Klosterbewohnerinnen auch auf ihre körperliche und seelische Gesundheit. Island hat sie gelehrt, jeden Sonnenstrahl zu schätzen. Bei schönem Wetter arbeiten sie im Garten. „Wir haben unseren Tagesplan und einige unserer Gewohnheiten so angepasst, dass wir so viel Tageslicht wie möglich nutzen können. Niemand muss uns ermutigen, draußen zu beten.“ An schönen Tagen essen sie auch im Freien. „Mit diesen einfachen Mitteln versuchen wir, wenigstens etwas lebensspendende Sonne zu erwischen und Energie für die dunkle Zeit zu tanken.“

Klostergarten Island
Sobald es das Wetter erlaubt, arbeiten die Karmelitinnen in ihrem Klostergarten. Dort gibt es immer viel zu tun. Foto: Anja Sabel

Eine große Rolle im Klosterleben spielt die Gemeinschaft. Sie macht so manche Bürde leichter. „Ein Scherz, ein Zeichen der Ermutigung oder auch eine einfache Hilfe können wie Lichtstrahlen sein.“ Und die Musik, die in erster Linie mit dem Gebetsleben verbunden ist. Die Karmelitinnen singen und spielen Instrumente in der täglichen Messe. Sie sagen, dass sie im isländischen Winter viel besser verstehen können, was es bedeute, dass Jesus als Licht auf die Erde kam: „Das Volk, das in der Finsternis wandelte, hat ein großes Licht gesehen; den Bewohnern eines Landes, das im Schatten lag und dunkel war wie der Tod, ist ein Licht aufgegangen.“ (Jes 9,1). 

Vor Weihnachten bauen die Schwestern in ihrer Kapelle eine große Krippe auf und laden über Facebook zum Besuch ein. Ein Erlebnis für die ganze Familie, denn es gibt in Island nicht viele Orte, an denen man solche Krippen sehen kann. „Die Menschen wissen auch, dass sie jederzeit zu uns kommen können, um zu reden, ihre Freuden und Sorgen mit uns zu teilen und um Gebet zu bitten. Wir wiederum erzählen ihnen von unserer spirituellen Erfahrung.“ Mit Gott an ihrer Seite könnten sie auch in schwierigen Zeiten sagen: „Nächte und Tage, lobt den Herrn. Licht und Finsternis, lobt den Herrn!“

Im norwegischen Longyearbyen ist der Februar vielleicht der schönste Monat des Jahres – wenn die Nacht der Sonne weicht. Drei Monate lang hat der Ort bis dahin in Dunkelheit gelegen. Endlich setzt die Dämmerung ein. Von Osten her erhellt ein blasser Lichtschein den Himmel und lässt die Silhouette der Bergkuppen aus der Nachtschwärze hervortreten. Schnee changiert in wechselndem Farbspiel – mal in zartem Violett, dann in leuchtendem Rosa. Das Naturschauspiel kündigt das Ende der Polarnacht an. Endlich Licht am Ende des Tunnels!

Anja Sabel