Gleichnis von Zöllnern und Schriftgelehrten
Von falschen Sicherheiten
Das Gleichnis Jesu musste provozieren: Dirnen und Zöllner kommen eher ins Himmelreich als Pharisäer und Schriftgelehrte? Das ist eine Frechheit, fanden die Frommen zur Zeit Jesu. Und wie finden es die Frommen von heute?
Von Susanne Haverkamp
Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren fromme Leute. Sie gingen in den Tempel, verrichteten alle vorgeschriebenen Gebete, gaben den Zehnten für Arme, Waisen und Witwen und bemühten sich auch sonst, die Gebote zu halten. Und dann kommt Jesus daher und sagt: „Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr!“ Beunruhigend, oder? Vor allem, wenn er damit auch die Frommen von heute meint. Aber auch merkwürdig. Was meint er damit?
Vermutlich will Jesus weder die Prostitution loben noch die erpresserische Bereicherung der Zöllner. Und er will umgekehrt auch nicht kritisieren, dass die Frommen fromm sind, beten und spenden. Vermutlich geht es ihm eher um die Haltung. Die Haltung der Selbstgewissheit: „Ich gehöre zu den Guten!“ und die Haltung der Zerknirschten: „Ich muss mich ändern!“
Dazu passt, dass Jesus auf Johannes den Täufer verweist. „Kehrt um!“ war dessen Botschaft, und offensichtlich waren unter den „Scharen“, die nach dem Zeugnis der Evangelien zu ihm kamen und die Bußtaufe auf sich nahmen, mehr Zöllner und Dirnen als Pharisäer und Schriftgelehrte. Die dachten wohl, sie hätten es nicht nötig. O doch, ihr habt es ebenso nötig, ist die Botschaft Jesu. Aber warum? Sie machen doch alles, was ein frommer Jude zu tun hat. So wie wir vielleicht alles tun, was ein frommer Christ zu tun hat. Was also fehlt aus der Sicht Jesu? Ein Blick auf das Leben Jesu gibt ein paar Hinweise:
Jesus geht es nicht um Regeln, sondern um die Ausnahmen.
Die Frommen rühmen sich, alle Gesetze und Gebote einzuhalten. Und zwar genau. Umgekehrt halten sie alle die für Sünder, die das nicht tun. Jesus zum Beispiel, der die Sabbatruhe nicht einhält. Oder der mit Unreinen am Tisch sitzt. Oder der nicht so fastet, wie es vorgesehen ist. Jesus findet es offenbar wichtiger zu heilen, als am Sabbat zu ruhen und dadurch Gott die Ehre zu geben. Er kümmert sich lieber um eine blutflüssige Frau und isst mit Zöllnern, als Menschen in rein und unrein aufzuteilen. Ja, er wagt es zu fragen, ob jede althergebrachte Regel wirklich dem Willen Gottes entspricht. Oder ob absolute Regeln nicht manchmal zu Erstarrung führen, weil sie den Blick auf Ausnahmen verstellen.
Jesus geht es nicht um das eigene Volk, sondern um konkrete Not.
Wer ist mein Nächster? Viele zur Zeit Jesu dachten: Jeder, der zum Volk Gottes gehört, zu den Juden. Vielleicht dachten auch einige: Jeder, der zu meiner Familie und zu meinem Freundeskreis gehört. Für die tue ich wirklich alles. Doch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt: Jesus geht es nicht um Volk, Familie oder Freunde. Ihm geht es um Menschen, die konkrete Not leiden. Um den Fremden, der unter die Räuber gefallen ist; um den Römer, dessen Tochter stirbt. Und vielleicht auch um den Flüchtling, der im Mittelmeer ertrinkt.
Jesus geht es nicht um Rechthaben, sondern um Liebe.
Recht muss Recht bleiben, das ist doch klar. Und wenn ich recht habe, dann steht mir dies oder das auch zu, wo kämen wir denn sonst hin ...? Nun, vielleicht ins Reich Gottes. Jesus jedenfalls sagt in der Bergpredigt, in der er seine Vision von einer gerechteren Welt entwirft: „Wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dir das Hemd zu nehmen, gib ihm auch die Jacke.“ Wer juristisch im Recht ist, interessiert ihn dabei nicht. Und wenn einer dir gegenüber schuldig geworden ist, sagt Jesus, vergib ihm – auch wenn es durchaus gerecht wäre, ihm zu zürnen. Auf sein gutes Recht ab und an zu verzichten, das ist die Liebe, die Jesus offenbar will.
Jesus geht es nicht um Rang, sondern um Dienst.
In der Hierarchie aufzusteigen, ist gut. Wer oben ist, kann offenbar mehr, ist besser angesehen. Das dachten auch Jesu Jünger und stritten um Ränge und Plätze. Jesus wurde immer ziemlich unwirsch, wenn er das mitbekam. „Die Ersten werden die Letzten sein“, ist ein geflügeltes Wort. Und: „Wer der Erste sein will, soll Diener aller sein.“ Irgendwie scheint Gott andere Vorstellungen vom Begriff „Karriere“ zu haben als wir.
Und vor allem geht es Jesus um eine Warnung: Wiegt euch nicht in falscher Sicherheit!
„Wir sind die Guten“, das würden die meisten von uns sagen oder denken. Wir sind keine Zöllner oder Dirnen, Mörderinnen oder Betrüger, Lügnerinnen oder Ehebrecher. Stimmt wohl, doch gerade darin sieht Jesus eine Gefahr: in der Selbstgerechtigkeit. In der Unfähigkeit, sein eigenes Leben und Handeln zu hinterfragen. In der Fähigkeit, Splitter bei anderen zu sehen, und in der Blindheit gegenüber den eigenen Balken. In dem strengen Urteil über andere und in der unendlichen Nachsicht gegenüber uns selbst. In der selbstgerechten Überzeugung, dass wir selbst Kraut sind – und die anderen das Unkraut.
Möglicherweise reicht es auch nicht, sich aufs Gut-katholisch-Sein zu berufen: „Meint nicht, ihr könntet sagen: Wir haben Abraham zum Vater“, schleudert Johannes der Täufer den Pharisäern entgegen. Nein, Jesus geht es um Taten, nicht um die Mitgliedschaft. Weder die in einem auserwählten Volk noch die in der richtigen Kirche.
Und was hilft ins Himmelreich? Nun, da legt Jesus die Latte gar nicht so hoch: Der ehrliche Blick auf mich selbst reicht schon. Wie der Zöllner oder die Dirne die eigenen Schwächen und Sünden erkennen und stets aufs Neue umkehren. Es nochmal versuchen, es besser machen. Denn mal ehrlich: Wenn Zöllner und Dirnen ins Himmelreich kommen, dann bin ich doch wohl auch dabei. Oder?