Pilgern in der Prignitz
Warum immer Santiago?
Nicht nur die großen Pilgerorte der heutigen Zeit sind eine Wallfahrt wert. Der kleine Prignitzer Ort Bad Wilsnack mit seiner Wunderblutkirche galt einst als Pilgerort europäischen Ranges – und lädt auch heute zum Besuch ein.
Der geöffnete Schrein in der Wilsnacker Wunderblutkapelle mit seinen beidseitig bemalten Türen. Auf der linken Innenseite ist die heilige Dreifaltigkeit, auf der rechten Jesus Christus nach Verhör und Folter durch Pilatus („Ecce-homo“) abgebildet. Foto: Wikimedia/Andreas Franzowiak |
Santiago de Compostela, in der nordwestlichen spanischen Region Galicien, ist für Pilger aus aller Welt ein wichtiger Wallfahrtsort. Laut offizieller Statistik des Pilgerbüros steigt ihre Zahl kontinuierlich, im Vorjahr waren es beinahe 180 000. Erfasst werden alle Pilger, die sich in Santiago eine Pilgerurkunde ausstellen lassen. Dafür müssen sie nachweisen, dass sie die letzten 100 Kilometer zu Fuß oder die letzten 200 Kilometer mit dem Fahrrad, zu Pferd oder mit dem Esel zurückgelegt haben – Entfernungen, die mittelalterliche Pilger wohl nur mit einem müden Lächeln quittiert hätten.
Etliche Pilger aus dem Osten werden damals auch durch hiesige Gefilde gezogen sein. Denn sie bevorzugten die damaligen Handels- und Heerstraßen, die hier in dem Ruf standen, gut ausgebaut und verhältnismäßig sicher vor Wegelagerern und Gefahren zu sein. Eine solche Route führte im Verlauf der heutigen Bundesstraßen B1/B5 von Frankfurt (Oder) nach Berlin.
Doch warum nahmen die Pilger den Umweg über das damals noch unbedeutende Berlin und folgten von Frankfurt (Oder) aus nicht direkt dem Handelsweg in die Messestadt Leipzig? Von dort aus hätten sie einen guten Anschluss westwärts nach Köln gehabt.
Hostienwunder nach Brandschatzung
Heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass der kleine Ort Wilsnack (heute Bad Wilsnack) in der Prignitz im Mittelalter gleich nach Santiago, Rom und Aachen als wichtigster Pilgerort Europas und als eines der wichtigsten Pilgerziele Nordeuropas überhaupt galt.
Die Hintergrundgeschichte datiert zurück in die 1380er Jahre: Seit längerem hatte der für seine Fehdelust berüchtigte Ritter Heinrich von Bühlow mit dem Bistum Havelberg und weiteren Edelleuten im Zwist gelegen. Der Mecklenburger erhob Besitzansprüche auf Wilsnack und weitere umliegende Dörfer. Als die Wilsnacker Bevölkerung 1383 auf dem jährlichen Domweihfest in Havelberg weilte, nutzte der Raubritter die Gelegenheit, um das Dorf mitsamt seiner Kirche niederzubrennen. Am nächsten Morgen fand die Wilsnacker Gemeinde der Überlieferung nach auf der verkohlten Altarplatte drei unversehrte Hostien, die mit Blut besprenkelt und wundertätig gewesen sein sollen.
Daraufhin pilgerten bis 1552, dem Beginn der dortigen Reformation, viele Tausende nach Wilsnack. Jakobspilger aus Ost- und Nordeuropa nahmen auf ihrem Weg nach Santiago den Umweg über Wilsnack wie auch Umwege zu anderen Heiligtümern. Historisch belegt ist ebenfalls, dass die Pilger von Wilsnack dann über Tangermünde und Magdeburg den Anschluss an Haupt-Jakobswege zum Beispiel nach Köln fanden.
Der Fund der wundersamen Hostien und die zahlreichen Pilger hatte für die nicht eben wohlhabende Gegend um Wilsnack einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge – wohl ganz gegen die Absicht des brandschatzenden Raubritters Heinrich. Die Zerstörung der Bluthostien fast 170 Jahre nach ihrer Entdeckung und das Ende der Wunderblutverehrung bedeuteten für Wilsnack hingegen den wirtschaftlichen Niedergang.
Jakobswege sind gut erforscht
Die monumentale Wunderblutkirche St. Nikolai in Bad Wilsnack ist heute als „Denkmal nationaler Bedeutung“ anerkannt. In ihr können mittelalterliche Wallfahrtsutensilien und der Wunderblutschrein besichtigt werden.
Die Jakobswege in Brandenburg sind in den letzten Jahren von der St. Jakobus-Gesellschaft Berlin-Brandenburg und der Jakobusgesellschaft Brandenburg-Oderregion gut erforscht, dokumentiert und ausgeschildert worden. Auch Literatur sowie Pilger- und Wanderführer sind erhältlich.
Warum also nicht die umliegenden Jakobswege zu Fuß oder über das erstklassig ausgebaute Radwegenetz erkunden? Es muss ja schließlich nicht immer gleich Santiago sein.
Rudolf Brenneis