Wie wir wurden, wie wir sind

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Kirche in der Nachkriegszeit – viele schwärmen davon. Volle Gottesdienste, neue Kirchen selbst in der Diaspora und Autorität, die niemand in Frage stellte. Aber hat es das kirchliche „Schlaraffenland“ wirklich gegeben? Pfarrer Oliver Meik ist dieser Frage in seiner Doktorarbeit nachgegangen. 

Pfarrer Oliver Meik
 Die Frucht einer jahrelangen Arbeit: Oliver Meik stellt seine Dissertation vor. Foto: Marco Heinen

Jahrelang hat er die Berichte und Korrespondenzen der Osnabrücker Bischöfe gesichtet. „Geistlicher Anspruch und gesellschaftliche Pragmatik in der Nachkriegszeit (1945 - 1966) – Die Osnabrücker Bistumsleitung für die römisch-katholischen Minderheiten Hamburgs, Mecklenburgs und Schleswig-Holsteins“, so heißt der Titel seiner Arbeit. Und wie dieser Titel vermuten lässt: Anspruch und Wirklichkeit gehen mitunter auseinander. „Was wie ein Aufbruch aussah, war zum großen Teil eine Folge von Wanderungsbewegungen“, sagt Dr. Meik. Prägend für die Nachkriegsjahre waren natürlich auch die unterschiedlichen Entwicklungen auf beiden Seiten der „Zonengrenze“. All das hat Auswirkungen bis heute. „Als ich Kaplan in Rostock wurde, habe ich schnell erfahren: Das kirchliche Leben ist anders geprägt – was sich etwa in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Autorität zeigte.“ In Hamburg-Farmsen, wo Oliver Meik aufwuchs, sei die Jugendgruppe sehr unabhängig gewesen. „Wir haben uns gefreut, wenn der Pfarrer mal zu uns kam. In Rostock aber sollte der Kaplan immer dabei sein.“ 

Die Ausgangslage war für die Kirche im Norden identisch: Derselbe Bischof, dieselben Strukturen, derselbe Klerus, dieselben Flüchtlinge aus dem Osten. „Und der Autoritätsbegriff stammte noch aus der Kaiserzeit“ – wo „ein Fürstenwort noch Geltung hat.“ Aber schon mit dem Ende der Kaiserzeit habe sich viel verändert. Bischof Wilhelm Berning (Osnabrücker Bischof von 1914-1955) kam noch aus der Zeit des Kulturkampfes. Nach dem Ersten Weltkrieg bekamen die Katholiken im evangelisch geprägten Norden zum ersten Mal Gleichberechtigung. Es kam zu Gründungen neuer katholischer Vereine, Sozialeinrichtungen, Orden und Kirchen. Große Wallfahrten entstanden, die während der NS-Zeit zum Teil Zehntausende von Gläubigen zusammenführten. Nach dem Krieg schien die katholische Kirche im Norden so stark zu sein wie nie zuvor. Was den Bischof zu großen Hoffnungen veranlasste. Oliver Meik: „Bischof Berning hoffte, dass nun endlich den Menschen das Licht des Glaubens aufgehe und vor den ,Häretikern‘ leuchte. Er glaubte, zurückkehren zu können zur Kirche vor 1933. Dass sich die Mentalität der Menschen aber verändert hatte, das wurde nicht reflektiert.“ Zwar stieg die Zahl der Katholiken enorm, eine Kirche nach der anderen wurde gebaut. Dazu gab es in den 50er Jahren viele Wiedereintritte und Konversionen. Aber schon in den 60er Jahren stiegen die Austritte. In Mecklenburg, das dreimal so viele Ostvertriebene aufgenommen hatte wie Schleswig-Holstein, zogen viele katholischen Flüchtlinge weiter. Dazu kam der Druck einer atheistischen Staatsführung. „Bis zum Mauerbau hat sich die Zahl der Katholiken in Mecklenburg halbiert, und sie hat sich noch einmal halbiert bis zur Wende“, konstatiert Meik. „Die Erfahrung war die eines ständigen Rückgangs, während die Hamburger durch die starke Zuwanderung einen ständigen Aufbruch erlebten.“ Ein Aufbruch, der allerdings seinen Preis hatte. Die karitativen Aktivitäten wuchsen enorm. Die katholische Kirche musste aber zur Finanzierung und Wahrung ihrer gesellschaftlichen Stellung Kompromisse machen. Schon in den 50er Jahren gab es gegenüber den Vorkriegsansprüchen gefühlt zu wenig Priester. Es gab zu wenig junge Priester für die Jugendarbeit, denn die Gefallenen der Kriegsjahrgänge fehlten. 

Dass ab 1952 die Kirchensteuer im Westen durch die Finanzämter eingezogen wurde, hatte auch seinen Preis. Die Kirche hatte danach zwar viel Geld. „Aber die Pfarreien verloren ihre Unabhängigkeit. Sie hatten bis dahin ihr Geld selbst beschafft – obwohl die Diaspora immer Zuschüsse brauchte. Sie waren etwa Anstellungsträger ihrer Pfarrer“, so Meik. Auch in anderen Bereichen sei es zu einer Zentralisierung gekommen. „Die Strukturen katholischer Vereine wurden jetzt auf die Diözese zugeschnitten.“ Anders die Entwicklung in Meck­lenburg. Dort hätten die Pfarrer unmittelbar nach dem Krieg eine große Unabhängigkeit gehabt. „Das lag aber daran, dass die Anbindung nach Osnabrück abgebrochen war.“ 

Eine neue Zeit, neue Lösungen. Das eigentliche Problem, so stellt Oliver Meik in seiner Arbeit heraus, war damals nicht im Blick. Die Gesellschaft veränderte sich schnell, die katholische Kirche entwickelte sich nicht. „Die Korrespondenz aus dieser Zeit zeigt: Die Bischöfe haben zwar genau reflektiert, was in der Gesellschaft vor sich ging. Sie reflektierten aber nie sich selbst.“ Das Ideal der „heilen Familie“, so wie es in den großen Predigten beschworen wurde, gab es nicht mehr. Die Familien waren anders geworden: sowohl durch das „Wirtschaftswunder“ im Westen als auch durch den Sozialismus im Osten. 

Unberührt von jeder Entwicklung waren der Selbstanspruch der kirchlichen Hierarchie und die Autorität der Amtsträger.  Und das führt zu Konflikten. Etwa durch das Auftreten von Laientheologen, die ebenso qualifiziert sind wie Priester, aber in der kirchlichen Sakralstruktur keine Position haben. „Und es führt zu Unsicherheit, wenn ein Bischof auf den Dialog setzt und überall auf Augenhöhe agieren will, aber trotzdem an seinem sakramentalen Führungsanspruch festhält.“ 

Der Untersuchungszeitraum der Arbeit von Dr. Oliver Meik endet 1966. Diese Zeit prägt auch noch die Gegenwart. Wie geht es weiter? Oliver Meik wird die Entwicklung der katholischen Kirche im Norden – so Gott will – nur aus der Ferne beobachten. In wenigen Tagen verlässt er Deutschland. Er tritt in das Kloster Serra San Bruno der Karthäuser im süd­italienischen Kalabrien ein. Die Dissertation wird in diesen Tagen als Buch im Husumer Matthiesen Verlag erscheinen.

Text: Andreas Hüser