Was Blindenheilung heute bedeutet
Zurück ins Leben
Der blinde Bartimäus schreit, damit Jesus ihn hört. Seine Heilung ist nicht nur ein Akt des Glaubens – Jesus holt ihn zurück in die Gemeinschaft. Das möchte auch die Christoffel-Blindenmission mit ihrer Arbeit erreichen.
Von Kerstin Ostendorf
„In unseren Projekten treffen wir jeden Tag Menschen wie Bartimäus“, sagt Gisela Matthes, die das Team Kirche bei der Christoffel-Blindenmission (CBM) leitet. Die Entwicklungsorganisation hilft seit mehr als 100 Jahren blinden und sehbehinderten Menschen weltweit. So wie dem biblischen Bartimäus, von dem das Evangelium an diesem Sonntag berichtet, geht es weltweit vielen Menschen mit Behinderung: Sie werden von der Gesellschaft ausgestoßen.
„Behinderungen sind immer noch mit vielen Vorurteilen behaftet. Häufig verstecken die Familien behinderte Angehörige. Nur zehn Prozent der Kinder mit Behinderung können eine Schule besuchen“, sagt Matthes. Sie haben häufig keine Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen und rutschen in die Armut ab. „Mit unserer Arbeit versuchen wir diesen Kreislauf zu durchbrechen.“
Weltweit aktiv gegen Augenkrankheiten
Die Christoffel-Blindenmission unterstützt 460 Projekte in 48 Ländern. Hauptsächlich ist das Werk in Afrika aktiv, aber auch in asiatischen und südamerikanischen Ländern mit Büros vertreten. Ein Schwerpunkt der Arbeit sind die Diagnostik und Behandlung von Augenkrankheiten, vor allem Operationen am Grauen Star, einer Trübung der Augenlinse, die unbehandelt zu Blindheit führen kann.
Mit ihrer Arbeit bei dem Hilfswerk möchte Gisela Matthes zeigen, wie aus christlicher Perspektive mit dem Thema Behinderung umgegangen werden sollte. „Gott hat uns alle mit Stärken und Schwächen geschaffen. Es ist die Gesellschaft, die die Schwäche als Behinderung definiert“, sagt sie. Die Geschichte von Bartimäus sei ein wichtiges Sinnbild für sie. „Es geht dabei gar nicht so sehr um einen großartigen Akt des Glaubens, sondern darum, dass Jesus Bartimäus in die Gemeinschaft zurückholt. In den Augen vieler Menschen war er nur der blinde Bettler und Jesus holt ihn vom Stadtrand weg“, sagt Matthes.
Auch die vierjährige Nakisinde aus Uganda erlebte, wie es ist, ausgeschlossen zu werden. Immer häufiger stolperte sie, fiel beim Laufen hin und konnte ihr Spielzeug nicht mehr erkennen. Andere Kinder wollten nicht mehr mit ihr spielen. Die Ärzte im Krankenhaus in Kampala diagnostizierten einen Grauen Star auf beiden Augen. Als Nakisinde im vergangenen Jahr künstliche Augenlinsen erhielt, war es die 15-millionste Operation, die von der Christoffel Blindenmission finanziert wurde. „Nakisinde hatte keine Zukunft. Mit ihrer Krankheit fiel sie ihrer Familie zur Last. Jetzt kann sie sehen, bald die Schule besuchen und unbeschwert mit anderen Kindern spielen“, sagt Gisela Matthes.
Mehr als nur körperlich unversehrt
Doch nicht immer können die Ärzte eine Augenkrankheit heilen. Gerade für blinde Menschen könne deshalb die Geschichte von Bartimäus auch verletzend sein, sagt Matthes. „Die traditionelle Deutung, die teilweise noch verbreitet ist, lautet: Du bist blind, weil du nicht genug glaubst.“ Dabei sei Jesus nicht der Wunderheiler, der medizinisch alles in Ordnung bringt. „Jesus bringt den Menschen das Heil. Er möchte sie verändern, sie zu Gott einladen. Das ist mehr als nur ein körperlich unversehrtes Leben“, sagt Matthes.
Daher fördert die Christoffel-Blindenmission auch Projekte, die blinden und sehbehinderten Menschen helfen, mit ihrer Einschränkung ein gelingendes Leben zu führen. Mwanahamisi und Rashid haben sich in einem solchen Projekt in Daressalam in Tansania kennengelernt. Beide waren am Grünen Star erkrankt und vollständig erblindet. Mwanahamisi musste ihr Geschäft aufgeben, Rashid konnte nicht länger im Labor eines Farbenherstellers arbeiten. Die CBM-Mitarbeiter zeigten ihnen, wie sie kochen, ihre Kleidung waschen und sich sicher mit dem Taststock auf der Straße bewegen können. Außerdem lernten sie, aus Plastiksäcken und Stoffstreifen Fußmatten zu fertigen, die sie auf dem Markt verkaufen können. „Die beiden haben sich in dem Projekt kennen und lieben gelernt und sind jetzt verheiratet“, erzählt Matthes. „Das ist zwar eine sehr besondere Geschichte. Grundsätzlich erleben wir es aber immer wieder, dass die Menschen sagen: Ich bin durch ein tiefes Tal gegangen, aber jetzt ist mein Leben lebenswert – auch mit meiner Blindheit.“
Die behinderten Menschen, die oft von der Gesellschaft und ihren Familien als lästig empfunden wurden, lernen, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das steigert ihr Selbstbewusstsein. „Sie können sich bei uns zu Landwirten ausbilden lassen, einen handwerklichen Beruf lernen oder Computerfähigkeiten erwerben“, sagt Matthes. Sie erinnert sich an einen sehbehinderten Bauern, der eine Fortbildung zu ökologischer Landwirtschaft besuchte. „Die Menschen in seinem Dorf merkten auf einmal: Er hat etwas gelernt, er hat mehr Ertrag auf den Feldern. Wir können von ihm lernen“, sagt Matthes.
Der Schlüsselsatz für die gesamte Arbeit
Egal ob auf den Krankenstationen oder in den Ausbildungsprojekten – ein Schlüsselsatz aus der Bartimäus-Geschichte prägt die Arbeit des Hilfswerks: Was willst du, dass ich dir tue? „Früher habe ich gedacht: Was soll diese Frage Jesu? Das ist doch klar! Bartimäus will sehen“, sagt Matthes. Doch hinter der Frage verberge sich eine Wertschätzung für den Menschen. Er soll sein Leben selbst gestalten. „Möglicherweise hat noch niemand Bartimäus diese Frage jemals gestellt. Andere haben sein Leben als blinder Bettler für ihn vorgezeichnet“, sagt Matthes. Deshalb setzen die Mitarbeiter der Christoffel Blindenmission auf Selbstbestimmung. Gisela Matthes sagt: „Wir kommen nicht zu den Menschen und sagen ihnen, was zu tun ist. Wir fragen: Was braucht ihr? Was möchtet ihr machen? Wie können wir euch helfen? So erfahren sie sich als Menschen, die in ihrer Würde geachtet werden.“