75 Jahre Niedersachsen

Aus vier Ländern wird Niedersachsen

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Am 23. November 1946, also vor 75 Jahren, wurde in der britischen Besatzungszone das Land Niedersachsen gegründet. In einer kleinen Serie stellen wir in der KiZ die Geschichte des Bundeslandes vor. In der vorherigen Ausgabe war dazu bereits ein Interview mit Prälat Felix Bernard, dem Leiter des Katholischen Büros Niedersachsen, abgedruckt. Heute geht es um die Landesgründung.


Noch während der Zweite Weltkrieg tobt, legen die Alliierten-Siegermächte im Februar 1945 in der Konferenz von Jalta die Neuordnung Deutschlands fest: (v.l.) Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin.

Auf der Konferenz von Jalta (2. bis 11. Februar 1945) beschlossen die Kriegsalliierten USA, Großbritannien und die Sow­jetunion die westlich der Oder-Neiße-Linie gelegenen Teile Deutschlands in Besatzungszonen aufzuteilen. Dies geschah nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945. Dabei geriet das nordwestliche Deutschland, bestehend aus den ehemaligen preußischen Provinzen Hannover, Schleswig-Holstein, Westfalen und dem nördlichen Rheinland sowie den Ländern Braunschweig, Oldenburg, Lippe, Schaumburg-Lippe und Hamburg, unter britische Kontrolle. Die Militärregierung, die ihren Sitz in Bad Oeynhausen besaß, verfügte anfangs anscheinend über keine konkreten Pläne zur territorialen Neugestaltung ihrer Zone. Dies verschaffte „deutschen Verwaltungsstellen und damit alten regionalistischen Traditionen ... einen erheblichen Einfluß“ (D. Lent). In dem Bemühen um den Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung suchten die Briten nach zuverlässigen Ansprechpartnern, die nicht durch eine nationalsozialistische Vergangenheit belastet waren. Hierzu zählte man den Sozialdemokraten Hinrich Wilhelm Kopf, der während der Weimarer Zeit Landrat im Kreis Hadeln gewesen und von den Nationalsozialisten aus diesem Amt entfernt worden war. Kopf wurde am 17. September 1945 zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover ernannt und entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Politiker nach 1945; er arbeitete zielstrebig auf die Schaffung eines Landes Niedersachsen hin.

Ein geschlossenes Territorium mit der Bezeichnung „Niedersachsen“ hatte es vor dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Jedoch waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts Pläne zur Zusammenfassung des niedersächsischen Raumes entworfen worden und war eine Vielzahl regionaler Initiativen entstanden, die den Begriff „Niedersachsen“ ohne eindeutige territoriale Grenzen aufnahmen und ihn weniger in einen politischen als vielmehr in einen kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhang stellten. Dazu gehörten der „Historische Verein für Niedersachsen“ (gegründet 1834), die „Historische Kommission für Niedersachsen“ (1910) und der „Heimatbund Niedersachsen“ (1901). Einen wesentlichen Beitrag zur Politisierung des Niedersachsengedankens mit dem Ziel der Gründung eines Niedersachsenstaates leistete die Welfen- oder Deutschhannoversche Partei (DHP), die sich als Oppositionsbewegung gegen die Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen nach 1866 gebildet hatte. Nach ihren Vorstellungen sollte sich um ein selbstständiges Hannover als Kris­tallisationskern durch den freiwilligen Anschluss der anderen Länder ein großes Niedersachsen bilden.

„Niedersachsen“ stieß auch auf Widerstand

Diesen Gedanken nahm Kopf wieder auf und konnte sich damit über Parteigrenzen hinweg auf breite politische Kreise Hannovers stützen, traf allerdings bei denen, die von Hannover aus beherrscht zu werden drohten, wie die Länder Oldenburg und Braunschweig, auf erbitterten Widerstand. Während seine Niedersachsenvorstellungen in seiner Partei nicht unangefochten waren, erhielt er uneingeschränkte Unterstützung durch die Heimatbewegung sowie von deutschhannoverscher Seite. Hier war der entscheidende Protagonist Heinrich Hellwege, der bereits als junger Mann politisch welfisch und dezidiert antipreußisch orientiert war. Nach Kriegsende war er maßgeblich an der Gründung der Niedersächsischen Landespartei (NLP), der Nachfolgerin der DHP, beteiligt, die im Juni 1947 den Namen „Deutsche Partei“ annahm. Zu Kopfs wichtigsten Gegenspielern im Ringen um die Gestaltung des Landes Niedersachsen entwickelten sich die Ministerpräsidenten der wiederhergestellten Länder Braunschweig und Oldenburg, der Sozialdemokrat Alfred Kubel und der Liberale Theodor Tantzen.

In einer der Militärregierung ein­ge­reich­ten Denkschrift vom 1. April 1946 über die „Bildung des Landes Niedersachsen“ wies Kopf darauf hin, dass eine Gebietsreform Norddeutschlands in der Weimarer Zeit am Widerstand Preußens und am Fortleben eines kleinstaatlichen Bewusstseins vor allem in den Ländern Oldenburg und Braunschweig gescheitert war, die sich als besonders anfällig für den Nationalsozialismus erwiesen hätten. Kopfs umschriebenes Niedersachsen hatte nach seiner Ansicht die richtige Größe, um den britischen Vorgaben nach Dezentralisierung und Demokratisierung zu entsprechen. Mit den Hinweisen auf Preußen und den Nationalsozialismus verwandte seine Denkschrift auf die Besatzmacht berechnete Reizworte.
 


Aus (von links) dem Land Hannover, dem Freistaat Oldenburg, dem Land Braunschweig und dem Land Schaumburg-Lippe entstand in der britischen Besatzungszone das Land Niedersachsen.

Fünf Länder in der britischen Zone


Die Neuordnung der britischen Zone wurde einer Entscheidung zugeführt, als die Militärregierung den Zonenbeirat, ein Beratungsgremium der Besatzungsmacht und Koordinierungsorgan der Landesregierungen der britischen Zone, am 4. Juli 1946 anwies, Vorschläge in dieser Frage vorzulegen. Mit dieser Anweisung waren zwei Vorgaben verbunden, nach denen es in der britischen Zone nicht mehr als fünf Länder geben sollte und nicht über die Stellung eines neu zu schaffenden Landes Nordrhein-Westfalen zu befinden war. Die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen am 23. August 1946, mit der aufgrund der Verordnung Nr. 46 die Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen und die Erhebung der ehemaligen preußischen Provinz Hannover zu einem selbstständigen Land verbunden war, präjudizierte die Pläne hinsichtlich Niedersachsens, das über eine gewisse Größe verfügen musste. Da außerdem nur fünf Länder in der britischen Zone gebildet werden sollten und Nordrhein-Westfalen sowie die beiden Hansestädte als politische Einheiten feststanden, blieb eigentlich nur noch die Zweierlösung Schleswig-Holstein und eben Niedersachsen.

Kopfs am 17. September 1946 im Zonenbeirat eingebrachtes Gutachten basierte auf seiner Denkschrift vom 1. April; Niedersachsen sollte sich aus Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe zusammensetzen, aber auch nach einer Volksabstimmung Lippe-Detmold und Gebiete im Bezirk Minden-Ravensberg und im Kreis Tecklenburg umfassen. Die Ministerpräsidenten Kubel und Tantzen hatten sich im Wesentlichen auf eine gemeinsame Lösung geeinigt. Sie sah für Oldenburg die Schaffung eines Staates Weser-Ems vor, dem die hannoverschen Regierungsbezirke Osnabrück und Aurich angehören sollten. Der Regierungsbezirk Hildesheim sollte zusammen mit dem hannoverschen Kreis Gifhorn an das Land Braunschweig fallen. Mit einer Zweidrittelmehrheit von 16 zu 6 Stimmen entschied sich der Zonenbeirat für Kopfs Vorschläge. Der Stellvertretende Militärgouverneur, Generalleutnant Robertson, erklärte am 23. Oktober seine grundsätzliche Zustimmung zur Kopfschen Lösung der Zonenneugliederung; sie kam den von den Briten dem Zonenbeirat gegebenen Rahmenbedingungen am weitesten entgegen, während der oldenburgisch-braunschweigische Vorschlag vor allem den wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht gerecht wurde. Damit war der Weg für ein Niedersachsen nach Kopfs Vorstellungen vorgezeichnet; allerdings musste man die Ausdehnung auf westfälische Gebiete aufgeben. Schließlich konstituierte die Verordnung Nr. 55 der britischen Militärregierung vom 23. November 1946 mit rückwirkender Rechtskraft vom 1. November durch den Zusammenschluss der Länder Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe das Land Niedersachsen mit der Hauptstadt Hannover. Mit der Bildung der Landesregierung unter Kopf als Ministerpräsidenten, in der Tantzen als Verkehrsminister und Kubel als Wirtschaftsminister fungierte, und der Ernennung des Landtages nach dem Ergebnis der Kommunalwahlen vom Herbst 1946, der sich am 9. Dezember 1946 konstituierte, war die Gründung des Landes Niedersachsen zunächst abgeschlossen.

Hans-Georg Aschoff