Interview mit Professor Tobias Faix
Die Kirche muss zweigleisig fahren
Wie verändert Corona unser Kirchesein? Diese Frage stellt der Studientag Ökumene am 18. September. Referent der Veranstaltung ist der evangelische Theologe Tobias Faix. Wir sprachen vorab mit ihm.
Herr Professor Faix, was nimmt die Kirche mit aus der Corona-Zeit?
Die wichtigste Erfahrung: Kirche kann sich verändern. Es hat immer wieder Anläufe für Veränderungen gegeben, aber oft haben sich die Kirchen damit schwergetan. Durch Corona ist nun plötzlich vieles möglich geworden. Es gibt eine Digitalisierungswelle, mehr Menschen werden beteiligt, es werden gemeinsame Entscheidungen gefällt, die Kirchen zeigen sich erstaunlich flexibel. Das ist eine hoffnungsvolle Botschaft.
Und wo liegen die Probleme?
Das lässt sich heute noch nicht abschließend sagen. Wir müssen erst einmal aufnehmen, was ist, und analysieren, was gut ist und beibehalten werden sollte, und was sich schließlich nur als eine Notlösung in einer außergewöhnlichen Zeit herausstellt.
Insbesondere die digitalen Angebote haben während Corona erheblich zugenommen. Bedeutet Kirchesein, Gemeinschaft, aber nicht reale Begegnung statt virtueller? Können wir auf persönliche Kontakte verzichten?
Nein, das können wir nicht, die Menschen brauchen die reale, analoge Begegnung für ihr Leben. Aber ich würde die digitalen Angebote nicht gegen die analogen ausspielen und sagen, das eine ist besser als das andere. Die Kirchen werden sich künftig zunehmend hybrid zeigen, auf der einen Seite klassische und neue Angebote vor Ort machen und andererseits stark auf digitale Formate setzen. Es kommt auf ein gutes und gesundes Maß von beidem an. Da wird es auch Unterschiede zwischen den Altersgruppen und Lebensphasen geben. Die Digitalisierung geht allerdings schon heute in alle Altersschichten hinein. Denken Sie an die Großeltern, die über whats app mit ihren Enkelkindern telefonieren und so über hunderte Kilometer den Kontakt halten. Warum sollte so etwas nicht auch im kirchlichen Raum möglich sein.
Erreichen die Kirchen mit den digitalen Angeboten ihre Kernklientel?
Da muss man natürlich fragen, wer denn die Kernklientel von Kirche ist. Es gibt Studien, die von einer Halbierung der evangelischen und katholischen Christen in Deutschland bis 2060 ausgehen. Vor allem in den Ballungsgebieten werden immer mehr Menschen ohne kirchliche Begleitung beerdigt. Taufen, Erstkommunionen bzw. Konfirmationen, Eheschließungen – all das führt nicht dazu, dass die Menschen dauerhaft oder über eine längere Zeit mit der Kirche in Kontakt bleiben. Die institutionelle Bindung nimmt stetig ab. Gleichzeitig erleben wir, dass die Suche nach Spiritualität zunimmt. Die Kirchen sind leer, die Yoga-Studios voll. Das sollte den Kirchen zu denken geben. Damit stellt sich auch die Frage nach der Kernklientel neu, und ebenso die Frage, auf welchem Weg wir diese Gruppe erreichen.
Können die Kirchen im Wettbewerb der virtuellen Angebote überhaupt bestehen?
Wenn es um die grandiosesten digitalen Auftritte geht, hat die Kirche sicher keine Chance, ganz vorn zu landen. Aber darum geht es nicht. Wichtig ist, dass die Angebote der Kirchen authentisch sind, dass sie Haltung zeigen, selbst wenn sie technisch und gestalterisch vielleicht fehlerhaft sind. Es geht nicht darum, einem Trend zu folgen, sondern Leidenschaft zu vermitteln.
Viele Gemeinden haben in den letzten Monaten ihre Gottesdienste auf ihren Homepages oder auf Youtube übertragen. Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie diese Angebote angenommen wurden?
Die evangelische Kirche hat bereits eine erste Untersuchung über digitale Verkündungsformate in der Corona-Zeit vorgelegt. Das Erstaunliche: Die digitalen Gottesdienste wurden von deutlich mehr Menschen geschaut als wir vor der Krise in den Sonntagsgottesdiensten gezählt haben. Das deckt sich auch mit einer persölichen Erfahrung. Mein Nachbar, der keine enge Kirchenbindung hat und den ich niemals dazu gebracht hätte, am Sonntag mit mir in die Kirche zu gehen, hat eine Gottesdienstübertragung am Computer verfolgt. Die Kirchen können von dieser Entwicklung übrigens profitieren. Die Nicht-Kirchgänger können ein Feedback geben, können sagen, wie Sprache, Form und Musik ankommen. Das führt dann etwas weg von der kirchlichen Binnenkultur, die viele Menschen gar nicht mehr verstehen.
Welche theologischen Probleme ergeben sich aufgrund der Digitalisierung?
Jede Menge. Die Digitalisierung berührt das Wesen von Kirche. Lebt Kirche nicht von der personalen Begegnung? Ist die Teilnahme an einem Internet-Gottesdienst eine gültige kirchliche Feier? Was ist mit dem Abendmahl? Im evangelischen Raum wird darüber diskutiert, ob jeder zu Hause mit Brot und Wein kommunizieren kann und dabei eine Realpräsenz Christi zustande kommt. Was die theologische Einordnung der Digitalisierung angeht, stehen wir noch am Anfang.
Sie loben die Reformfähigkeit der Kirchen während der Corona-Krise. Geht die nicht einher mit dem Verlust der Identität? Wo bleiben Atmosphäre, Raumerlebnis, Duft, Unmittelbarkeit wenn die Kirchen immer stärker auf Digitales setzen?
Sicher haben Menschen genau dies in den letzten Monaten vermisst. Bei aller Begeisterung für neue Formate dürfen die Kirchen auch künftig nicht auf diesen analogen Teil verzichten. Allerdings werden wir, wie ich bereits erwähnt habe, zweigleisig fahren müssen. Über neue, digitale Angebote sind auch Menschen hinzugekommen, die die Kirchen sonst nicht erreicht hätten. Und wir müssen uns über eins klarwerden: In der Vergangenheit war die Mitgliedschaft in einer Kirche identitätsstiftend. Diese Kraft ist weitgehend verlorengegangen. Also müssen wir die Frage stellen, was eigentlich Identität stiftet.
Sie sind Referent beim Studientag Ökumene. Was hat das Thema mit Ökumene zu tun?
Wir leben in einem Zeitalter der Postkonfessionalität, das heißt, dass für die meisten Menschen die Konfession kaum noch eine Rolle spielt. Das haben die Entwicklungen während der Corona-Krise noch mal eindrücklich gezeigt. Es geht nicht mehr um die Mitgliedschaft, sondern um Teilhabe, Heimat, die Möglichkeit sich einzubringen. Die Grenzen verflüchtigen sich, und darin liegt eine riesige Chance für die Ökumene. Wir können jahrhundertealte Hürden überwinden. Darin liegt natürlich auch Brisanz. Das Kirchenvolk geht da weiter als die jeweiligen kirchlichen Spitzen – und das führt natürlich auch zu Spannungen.
Interview: Matthias Bode
Studientag digital
Der Studientag Ökumene am 18. September steht unter dem Motto „… in die Puschen kommen – Reale Gemeinschaft und virtuelle Räume“. Erstmals in der 35-jährigen Geschichte des Studientags findet dieser digital statt. Er kann auf der Homepage des Bistums (www.bistum-hildesheim.de/studientag-oekumene) verfolgt werden, Beginn ist um 17 Uhr. Der Referent Tobias Faix ist Professor an der evangelischen CVJM-Hochschule in Kassel. Das besondere Interesse des 51-Jährigen gilt den Veränderungen, in denen Kirche und Gesellschaft sich bewegen. Er hat dazu zahlreiche Schriften veröffentlicht (tobiasfaix.de).