Mini-Häuser für obdachlose Menschen
Drei Quadratmeter Zuflucht
Zahlreiche Helfer waren gekommen, viele von ihnen von der „Young Caritas“ und dem Arbeitsdiakonat des Christian-Schreiber-Hauses. Aber auch die Little Home-Gemeinde selbst war zahlreich vertreten. Fotos: Walter Wetzler |
Selten fällt beim Häuslebau die Materialliste so kurz aus: Nägel und Schrauben, drei Europaletten, einige Pressspanplatten, ein bisschen Laminat, noch ein bisschen mehr Holzlatten, reichlich Farbe und eine Rolle Dachpappe. Die Rede ist von einem Haus der Marke „Little Home“, von dem gerade eines auf dem Gelände der Gemeinde St. Pius in Berlin-Friedrichshain errichtet wird. Ingesamt ist es das 200. derartige Mini-Haus in ganz Deutschland. Der Name ist durchaus Programm, denn die Grundfläche beträgt nur 3,2 Quadratmeter.
„Nur“ drei Quadratmeter? Mitnichten. „Diese drei Quadratmeter mit vier Wänden und einem Dach oben drauf – für mich war das ein himmelweiter Unterschied im Vergleich zu vorher, auf der Parkbank am Alexanderplatz“, sagt André. Der 42-Jährige hatte einige Monate lang im Freien genächtigt, bis er in eine der kompakten Wohnboxen im Berliner Stadtgebiet gezogen war. Er hat es erst einmal geschafft, wohnt seit März in einer sozialen Trägerwohnung.
Andrés Geschichte ist eine der vielen kleinen Erfolgsgeschichten, die seit der Little Home-Gründung 2017 geschrieben worden sind.
In fünf Jahren 200 Hütten erbaut
Man könnte es in Zahlen ausdrücken: 200 Hütten in fünf Jahren, über 100 Menschen, die nach ihrer Zeit in der Holzhütte wieder einen festen Mietvertrag unterschrieben haben und beinahe genauso viele, die wieder einer geregelten Tätigkeit nachgehen. So lautet die Erfolgsbilanz von Little Home – und damit auch von Sven Lüdecke, der das Ganze ins Leben gerufen hat. Er hat gerade einige Worte des Dankes, aber auch der Motivation an die 30 bei kühlen Temperaturen erschienenen, freiwilligen Helfer gerichtet und den Bautrupp auf das gemeinsame Vorhaben eingeschworen. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass die ersten Schritte in geordneten Bahnen verlaufen, erzählt er von seinen Anfängen mit Little Home.
Es begann mit seiner persönlichen „Wandlung vom Saulus zum Paulus“. Als Hotelfotograf sei er stets auf der Suche nach dem besten Motiv und damit immer neuen, lukrativen Aufträgen gewesen. Da blieb wenig Zeit, um auf andere Gedanken zu kommen. „Früher war ich Egoist, hätte nie daran gedacht, mal auf diese Weise etwas für andere zu tun“, gesteht er. In einer kalten Winternacht am Kölner Hauptbahnhof im Jahr 2016 habe er jedoch erlebt, wie das Ordnungsamt in rabiater Manier eine Obdachlose von ihrem Schlafplatz vertrieb. Dies habe ihn zum Umdenken bewegt. „Ich begriff, wie schnell es gehen kann, dass man plötzlich auf der Straße sitzt.“
Dieser Erkenntnisgewinn war für Sven Lüdecke der entscheidende Impuls. Er erfuhr von der „Tiny House“-Bewegung aus den USA, die den Bau winziger Häuser für soziale und nachhaltige Zwecke propagiert, machte sich ans Werk und zimmerte der Kölnerin vom Hauptbahnhof die allererste Wohnbox zusammen. Und weil sich die damals neuartige Idee schnell herumsprach und immer mehr Menschen Interesse anmeldeten, gründete er 2017 mit Mitstreitern den Verein „Little Home Köln e.V.“.
Die Geschichte nahm ihren Lauf. Haus um Haus entstand, in mehreren Großstädten in der Bundesrepublik, aber nie zu viele auf einmal. „Wir wollen keine Ghettos“, erklärt Sven Lüdecke. Deshalb seien pro Standort maximal fünf Wohneinheiten vorgesehen. Die meisten Hütten gibt es in Berlin, mittlerweile an die 60. Die Nachfrage reißt trotzdem nicht ab. „Unsere Warteliste ist inzwischen über 100 000 Anfragen lang. Das zu bedienen, ist natürlich völlig unmöglich.“
Eine Massenproduktion käme für den Little Home-Macher aber ohnehin nicht in Frage. „Jedes weitere von uns gebaute Haus nimmt die zuständigen Politiker ein Stück weit aus der Verantwortung“, erklärt er. Dabei seien diese gefordert, das Problem der Obdachlosigkeit strukturell zu bekämpfen, an der Wurzel zu packen.
Gemeinschaftssinn spielt wichtige Rolle
Auf der Baustelle herrscht derweil weiter emsiges Treiben. Ex-Mieter André erteilt gerade ein paar Instruktionen an die Helfer.
Wie man in solch einer Holzhütte durch den Winter kommt? „Ich sag mal so: Man schafft‘s. Mit Gaskocher und Grabkerzen erreicht man drinnen bis zu 20 Grad“, berichtet André. Er erwähnt auch die Regeln: „Man unterschreibt einen Mietvertrag über null Euro und akzeptiert damit die Regeln. Zum Beispiel: kein Alkohol, keine Drogen.“
Obwohl er seit einigen Monaten in einer „echten“ Wohnung lebt, hat er seine Zeit im Little Home nicht vergessen: „Mein Herz hängt am Verein, ich bin ihm unendlich dankbar. Und nun will ich etwas zurückgeben“, sagt er. Einen Nachfolger für seine „alte Hütte“ ist auch schon gefunden.
Neben André sind viele ehemalige und aktuelle Little Home-Bewohner heute mit dabei. Sie haben selbst schon Wohnboxen mitgebaut und helfen Sven Lüdecke dabei, die Bauarbeiten zu koordinieren. Das erscheint sinnvoll, denn nicht alle Engagierten hier haben einen handwerklichen Hintergrund. Das gilt auch für Franzi, eine junge Frau, die gerade die Kreissäge bedient. „Wenn man begriffen hat, wie es geht, ist es eigentlich ganz einfach“, sagt sie. Das „Young Caritas“-Mitglied ist angetan vom Konzept: „Es ist nicht viel Platz, aber immerhin eine einfache Wohnung – und auch noch an einem Tag gebaut.“
Diakon Wolfgang Willsch segnet die neue Hütte in St. Pius. |
Egal, mit wem man spricht, ob mit oder ohne Obdach: Alle betonen den Spaß bei der gemeinsamen Sache. Janine hat keine Vergangenheit als Obdachlose, ist vor drei Jahren aber trotzdem Vereinsmitglied geworden, nachdem sie in der Zeitung über das Projekt gelesen hat. „Ich mache wirklich total gern mit, weil ich dieses Wir-Gefühl so faszinierend finde“, sagt sie. Sie nehme lieber das Werkzeug in die Hand als Geld zu spenden. „Mit dem Haus hat man ein Endprodukt, das man anfassen kann.“
Dass gemeines Engagement zusammenschweißen kann, davon zeugen auch die vielen Unternehmen, die einen Little Home-Bau als Firmenevent gebucht haben. „Die Firmen nutzen das für Teambuilding, also um den Mannschaftsgeist in der Belegschaft zu stärken. Gemeinsam etwas zu schaffen, das einen guten Zweck erfüllt – das bereitet vielen Freude“, so Janine. Das gelte auch für Schulklassen, von denen ebenfalls regelmäßig Anfragen eingingen.
Seltenheit auf der Straße: Nächstenliebe
Solidarität unter Obdachlosen sei keine Selbstverständlichkeit, sagt Stephan, ein junger Mann Anfang 30, von dem man wegen seines gepflegten Erscheinungsbilds nicht unbedingt annehmen würde, dass er zwei Jahre ohne festen Wohnsitz gelebt hat. Seine Schilderungen klingen eher ernüchternd: „So etwas wie echte Freundschaft unter Obdachlosen gibt es eigentlich nicht. Meistens ist sich jeder selbst der Nächste.“ Oft genug habe er erlebt, wie der eine den anderen heimlich beklaute, als sich die Möglichkeit bot. In der Little Home-Gemeinde sei dies anders, weshalb er heute auch gern mithelfe.
Für Stephan selbst ist es nach zwei Jahren der letzte Tag als Little Home-Bewohner, gleich morgen zieht er in ein Wohnheim für betreues Einzelwohnen. In den zwei Jahren ohne Obdach hatte er sich allen erdenklichen Erniedrigungen ausgesetzt gesehen. „Ich habe alles erlebt: Beleidigungen, Flaschenwürfe, sogar eine vorgehaltene Schreckschusspistole“, sagt er in erschreckend beiläufigem Ton. Die meisten Anfeindungen und Gewaltakte seien von Jugendlichen ausgegangen. Ältere Menschen hingegen seien ihm in der Regel deutlich freundlicher begegnet.
Sein Kampf geht weiter, denn bei ihm wurde neben Parkinson noch eine weiterer, seltener Fall von Muskelschwund diagnostiziert. „Die Ärzte geben mir noch zehn Jahre, bevor ich im Rollstuhl lande oder schlimmer.“
Aus der Zeit bis dahin will er das Beste machen. Und auch weiterhin mit anpacken, wenn Sven Lüdecke anruft. „Wieder gebraucht zu werden, ist einfach ein gutes Gefühl.“
Von Stefan Schilde