Erzählen gegen das Vergessen
Sally Perel (93) ist einer der letzten Zeitzeugen, der vom Überleben des Holocausts und von der Zeit des Nationalsozialismus berichten kann. Und er will seine ungewöhnliche Geschichte erzählen, so lange er lebt.
Am Ende können manche ihre Gefühle nicht mehr verbergen. Verstohlen ziehen sie ein Taschentuch hervor und tupfen sich mit gesenktem Kopf die Tränen von der Wange. Zu bewegend ist das, was sie eben gehört haben. Es ist die Geschichte von Sally Perel, des „Hitlerjungen Salomon“, jenes jüdischen Jungen, der den Holocaust in einem Internat der Hitlerjugend in Braunschweig überlebt hat.
93 Jahre ist Perel mittlerweile alt. Er lebt in Israel. Und er wird nicht müde, Jugendlichen seine Geschichte zu erzählen. Heute spricht er im bischöflichen Gymnasium Josephinum in Hildesheim zu Schülerinnen und Schülern des 9. und 10. Jahrgangs. Etwa 300 Jugendliche sitzen in der Aula. Und Perel gelingt es, ihre Aufmerksamkeit fast zwei Stunden lang zu fesseln. Charmant ist der alte Mann, gewitzt geradezu, dann wieder ernst und eindringlich. Seine Botschaft: Versöhnung und Aufklärung. Denn: „Die Zeitzeugen sind die besten Geschichtslehrer.“
Ich war Hitlerjunge Salomon
40 Jahre lang hat Sally Perel gebraucht, bis er seine Geschichte veröffentlichte. Das Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“ wurde weltweit bekannt. „Mein Schicksal sollte das einzige dieser Art des zweiten Weltkrieges sein“, erzählt er den Jugendlichen. 1925 wurde er in Peine als Sohn eines Rabbiners geboren. Nachdem die Nazis das Schuhgeschäft der Familie zerstörten, floh er als 10-Jähriger mit seinen Eltern und Geschwistern zunächst nach Polen, zu Beginn des Krieges 1939 dann weiter in Richtung Sowjetunion. Ohne seine Eltern. Sie werden den Krieg nicht überleben. „Meine Mutter wusste, dass sie mich nie wiedersehen würde. Ich wusste es nicht. Ich weiß nicht, woher sie in diesem Moment die Kraft nahm. Und jetzt verrate ich euch, was sie mir zum Abschied gesagt hat: Du sollst leben!“ Nach diesem Satz ist die Stille in der Aula mit Händen zu greifen.
Du sollst leben – diesen Satz macht er fortan zu seinem Credo. Bei Minsk wird Perel von deutschen Soldaten festgenommen. Er gibt sich als Volksdeutscher aus und nennt sich Josef Perjell. „Ich weiß nicht wieso, aber der Soldat hat mir geglaubt.“ Danach arbeitet er zwei Jahre als Dolmetscher für die Wehrmacht. Sein Hauptmann will ihn sogar adoptieren und schickt ihn 1943 auf eine Akademie der Hitlerjugend in Braunschweig. Dort lebt er „versteckt unter der Haut des Feindes. Vier Jahre lebte ich so als kleiner ängstlicher hoffender jüdischer Junge“. Eindringlich beschreibt Perel den Jugendlichen seine Angst, entdeckt zu werden. Er berichtet von aberwitzigen Zufällen, die ihm das Leben retten, von Menschen, die ihn nicht verraten, von der verzweifelten Suche nach seinen Eltern und er verschweigt auch nicht die innere Zerrissenheit, die dieses Doppelleben mit sich bringt. „Ich wurde der Hitlerjunge.“ Er, der 16-jährige Sohn eines Rabbiners, wird empfänglich für die Parolen der Nationalsozialisten.
Zu kritischen Menschen erziehen
Nicht empfänglich zu werden für wieder aufkommenden Neonazismus, das will Perel seinen jungen Zuhörern denn auch mit auf den Weg geben. Und er hat ebenfalls eine Botschaft an die Lehrer: „Die wichtigste Aufgabe der Schule ist es: Junge Menschen zu kritischen Geistern zu erziehen.“ Der 93-Jährige verfolgt das aktuelle Tagesgeschehen in Deutschland. Er sorgt sich um das Erstarken der AfD und berichtet, wie Neonazis versuchen, seine Vorträge zu stören. Auch deswegen erzählt er seine Geschichte wieder und wieder: um zu zeigen, wie schnell Menschen sich verführen lassen. „Und wenn ich bei dieser Leserreise nur einen einzigen erreiche, aus dieser Szene auszusteigen, dann habe ich meine Mission erfüllt, dann ist es mir das alles wert gewesen.“
Stefanie Behnke