Stephan Weil im KiZ-Interview

„Es gibt da etwas, das größer ist als wir“

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Seit fünf Jahren ist Stephan Weil Niedersächsischer Ministerpräsident. Im KiZ-Interview spricht der SPD-Politiker über den Zusammenhalt in der Gesellschaft, Kinderarmut und die Rolle der Kirchen im Land.


Religionsgemeinschaften stiften
Identität, sagt Ministerpräsident
Stephan Weil. | Foto: Staatskanzlei

Zusammenhalt ist einer der drei zentralen Stichworte des Koalitionsvertrages zwischen SPD und CDU – und ein großes Wort: Wie definieren Sie es?

Lassen Sie mich kurz ausholen: Wir stehen vor gewaltigen Umbrüchen – insbesondere bedingt durch Digitalisierung und Globalisierung. Solche Umbrüche lösen Unsicherheit und Besorgnis aus.  Dagegen muss man Sicherheiten setzen – und das ist weit mehr als Polizei auf der Straße. Dazu gehört die Sicherheit Wohnraum zu haben, genug zu essen, Gesundheitsschutz und Pflege und der Schutz vor Existenzrisiken. Menschen sind soziale Wesen, sie brauchen Gemeinschaften, als deren Teil sie sich fühlen, in denen sie akzeptiert sind, vielleicht sogar gemocht werden. Deswegen ist die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts so wichtig. Je mehr Zusammenhalt, je mehr Gemeinschaftsgefühl wir haben, desto mehr Sicherheit werden Menschen empfinden.

In vielen Studien findet sich der Hinweis, dass das Gefühl, es geht ungerecht in diesem Land zu, gestiegen sei. Wie geht man als Politiker mit solchen Gefühlen um?

Gefühle sind in der Politik letztlich harte Fakten. Sie sind ernstzunehmen – es recht dann, wenn es – wie hier - für ein Gefühl nachvollziehbare Gründe gibt. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die soziale Schere in diesem Land seit einigen Jahren immer weiter auseinandergeht. Deshalb bin ich für die Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen einerseits und einen höheren Spitzensteuersatz andererseits.  Auf der anderen Seite kann Altersarmut ein immer größeres Risiko werden.  Zudem erlebt ein Fünftel der Kinder Armut als ihren Alltag. Ich verstehe die Gründe, für dieses Gefühl der Ungerechtigkeit – und es gibt einiges, was die Politik besser machen kann.

Was wäre das zum Beispiel?

Es ist eine Aufgabe des Staates, dass sich alte Menschen keine Sorgen darüber machen müssen, wie es mit ihnen weitergeht. Wir brauchen mehr Anstrengungen im Bereich der Pflege, darüber haben wir uns im Bund verständigt. Das Nadelöhr ist zurzeit die Frage: Finden wir genügend Menschen, die bereits sind, diese schwierige und herausfordernde Arbeit zu leisten? Dafür müssen sie angemessen bezahlt werden.
Und die Kinderarmut?
Darüber habe ich in meiner Zeit als Oberbürgermeister von Hannover viel gelernt. Es gibt aktuell eine wichtige Diskussion über eine Kindergrundsicherung. Niedersachsen leitet eine Arbeitsgruppe der Bundesländer. Unser Ziel: Wir wollen durch ein sinnvolles Zusammenführen  der vielfältigen Angebote und Programme zur Förderung von Familien, das Gesamtsystem besser machen. Fast ebenso wichtig ist die Frage, wie wir Kindern aus eher bildungsfernen Familien die Chance geben, ihre Talente zu entfalten? Da ist viel in der frühkindlichen Förderung oder bei Ganztagsschule geschehen. Aber der Fortschritt ist häufig eine Schnecke.

Als Flächenland muss sich Niedersachsen mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es strukturstarke und- schwache Gebiete gibt. Die einen boomen, die anderen veröden. Was kann das Land gegen diese Schere tun?

Das Grundgesetz gibt uns einen klaren Auftrag: Wir haben gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen – auch wenn es sich in der Stadt und auf dem Land letztlich immer unterschiedlich lebt. Das ist eine der besonderen Herausforderungen für die Politik. Wir leben im Zeitalter des Internets. Auch und gerade in den ländlichen Räumen brauchen wir gute Zugänge zum Internet – sonst verlassen gerade junge Leute ihre Heimat. Also müssen wir in den Glasfaserausbau investieren. Ein anderes Beispiel: Gesundheit. Es gibt immer wieder Ökonomen, die uns weismachen wollen, mit einigen wenigen Großkrankenhäusern hätten wir eine optimale Versorgung. Das geht an der Realität in einem Flächenland vorbei. Wir brauchen regional gut ausgestattete Krankenhäuser. Dafür nehmen wir in den nächsten Jahren 1,8 Milliarden Euro in die Hand.

Nun gibt es aber auch zwischen den ländlichen Räumen in Niedersachsen Unterschiede …

Sehr große Unterschiede sogar. Im Offizialat Vechta werden Sie auf wenige Beschwerden stoßen – außer dem Fachkräftemangel. Im Bereich des Bistums Hildesheim dagegen haben einige Kommunen Sorgen. Schaut man genauer hin, sieht man den Zusammenhang zwischen Demografie und Wirtschaftskraft. Wo es wirtschaftliche Dynamik gibt, finden junge Leute Arbeit und gründen Familien. Da sind wir beispielsweise mit dem Südniedersachsenprogramm auf einem guten Weg.

Ein weiterer Indikator für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die Nachbarschaftshilfe. Auch hier sind verstärkt Initiativen tätig. Kann das Land sie stützen?

Ich bin froh und dankbar, dass wir in Niedersachsen ein so unfassbar großes ehrenamtliches Engagement haben. Wir gelten als das Bundesland mit dem höchsten Freiwilligenanteil – wenn man den einschlägigen Untersuchungen Glauben schenkt. Als Politiker müssen wir dieser Bereitschaft immer wieder unseren Dank und unsere  Wertschätzung entgegen bringen. Nach wie vor bin ich beeindruckt, wie sehr sich die Menschen in Niedersachsen erst bei der Aufnahme und jetzt bei der Integration von Flüchtlingen engagieren. Allein mit staatlichen Programmen wäre uns das nie gelungen.

Nun gibt es aber auch Menschen ohne deutschen Pass, die schon lange hier leben – die ehemaligen „Gastarbeiter“, die geblieben sind. Wie steht es um den Zusammenhalt mit ihnen?

Sie sprechen da einen wunden Punkt an. Gerade in muslimischen Gemeinden fragen viele junge Leute die Älteren: Wie weit seid ihr mit dem Versuch gekommen, in Deutschland als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert zu werden? In Wahrheit fragen sie das uns Deutsche – und es stellt uns kein gutes Zeugnis aus. Fakt ist, wer sich mit dem Namen Schmidt um einen Job bewirbt hat größere Chancen als mit den Namen Yildirim. Das bereitet mir Sorge. Das ist noch viel zu tun.

Das heißt, Sie plädieren für das Anerkennen einer neuen gesellschaftlichen Vielfalt?

Vielfalt ist immer gut für eine Gesellschaft. Das zeigen zahllose historische Erfahrungen und Beispiele. Das setzt immer neue Kräfte frei, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Allerdings muss Zuwanderung immer gesteuert werden, die aufnehmende Gesellschaft darf nicht überfordert werden. Aber selbstverständlich bleiben wir eine Zufluchtsstätte für Schutzsuchende.

Welche Rolle werden Kirchen und Religion künftig beim gesellschaftlichen Zusammenhalt einnehmen?

Ich hoffe sehr, dass wir auch in Zukunft starke Kirchen und andere Religionsgemeinschaften haben werden – in einer pluralistischen Gesellschaft. Das ist von großer Bedeutung für den Zusammenhalt. Religionsgemeinschaften haben einen Wertekanon und stiften Identität. Genau das brauchen viele Menschen in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen. Wir leben zudem in einer Gesellschaft, die vom Konsum geflutet wird. Da ist es umso wichtiger, an etwas Entscheidendes erinnert zu werden: Es gibt da etwas, das größer ist als wir.

Was wäre Ihr Ideal eines gesellschaftlichen Zusammenhalts – und wo sehen Sie Gefährdungen?

Umbrüche fallen nie leicht. Eine häufige Reaktion von Menschen darauf ist Ausgrenzung. Wir erleben zurzeit eine Phase von wachsendem Nationalismus. Dagegen setze ich das Bild einer Gesellschaft, die aus unterschiedlichsten Quellen stammt, die aber gut zusammenhält und gemeinsam nach vorne gehen möchte. Ich erinnere an die letzten Landtagswahlen in Niedersachsen: Die AfD lag hier gerade mal bei sechs Prozent, in Bayern ist sie aktuell bei zwölf. Ich führe das auch auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Niedersachsen zurück. Alle großen Kräfte im Land haben sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sie halten zusammen. Das ist durchaus ein Erfolgsrezept.

Interview: Rüdiger Wala