Zwölf-Apostel-Kirche in Hildesheim
Glaubensbotschaften aus Beton
Die Hildesheimer Zwölf-Apostel-Kirche von Dieter Oesterlen wurde als neue Mitte in einem jungen Stadtteil konzipiert. Teil fünf unserer Serie zur Nachkriegsmoderne.
Wie eine verkantete Großplastik schiebt sich der doppelschäftige Betonturm in den Himmel. Doch dann entzieht er sich plötzlich den Blicken, je nachdem, von welcher Ecke man sich dem Gemeindezentrum nähert. Die evangelische Zwölf-Apostel-Kirche in Hildesheim liegt auf einem Hügel mitten im Wohngebiet im Westen der Domstadt. Das rätselhafte Turmpaar ist der Dreh- und Angelpunkt der Anlage. „Ein aus der Erde wachsendes, himmelwärts aufstrebendes Monument, filigran und mächtig zugleich, eine selbstbewusste Antwort des 20. Jahrhunderts auf die historischen Kirchentürme der Hildesheimer Altstadt“, schreibt Superintendent Mirko Peisert. „Eine trutzig wehrhafte Glaubensburg auf dem Berg. Eine in Beton gesetzte Vision von Kirche und Gemeinde.“
Entworfen hat sie Dieter Oesterlen. Der bekannte hannoversche Architekt hat nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Kirchen gebaut, er war auch verantwortlich für den Wiederaufbau der mittelalterlichen Marktkirche in der Altstadt von Hannover. Der Grundstein für die Hildesheimer Zwölf-Apostel-Kirche wurde 1965 gelegt, zwei Jahre später wurde das Gotteshaus geweiht. Das Gemeindezentrum Zwölf-Apostel-Kirche mit Kirche, Gemeindesaal, Pfarrhaus, Küsterwohnung und Kindergarten sollte die neue Mitte für einen jungen und wachsenden Stadtteil werden. Der große Innenhof wird von den Gebäuden umschlossen, die jeweils auf unterschiedlichen Höhen liegen, das gesamte Ensemble wurde 1975 fertiggestellt.
Gemeinden und Architekten suchten nach zukunftsweisenden Lösungen, schreibt der Theologe und Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland Johann Hinrich Claussen: „Sie mussten und sie wollten den Aufbruch wagen, in Bewegung kommen und bleiben. Sie vermieden das Monumentale und Repräsentative, stattdessen versuchten sie, eindrucksvolle architektonische Gestaltungen mit einem Sinn für das menschliche Maß zu verbinden.“
Längst nicht alle Träume und Visionen haben sich erfüllt, und auch nicht alle Ideen sind tatsächlich aufgegangen. Dennoch dokumentieren die Kirchbauten der Nachkriegsmoderne, selbst wenn sie heute manchmal schwer zu verstehen sind, wie stark die Kirche damals in Bewegung war. Darauf weist auch der katholische Theologe und Religionspädagoge Hubertus Halbfas hin: „Hinter den vielgestaltigen Gemeindezentren steht die Überzeugung, dass die Kirche sich neu verstehen lernen muss. Sie soll in zahlreiche Dienste eintreten, soziale Aufgaben erfüllen und den wachsenden Freizeitbedürfnissen der Menschen gerecht werden.“
Kirche ist vielgestaltig – ein offenes Haus, ein Ort der Begegnung und des Gottesdienstes. Das Ensemble Zwölf-Apostel-Kirche von Dieter Oesterlen gilt heute als Kulturdenkmal der Nachkriegsmoderne und steht unter Denkmalschutz. Die Kirche aus sandfarbenem Beton ist unübersehbar der wichtigste Bau des Gemeindezentrums. Im Innern ist das Gotteshaus schlicht und beinah schmucklos, das große helle Fenster neben dem Altar reicht bis zum Boden und öffnet den Blick in die Landschaft. Die Wände aus rauem Sichtbeton geben dem Raum eine besondere Wirkung: spröde, einladend und unfertig zugleich. Der Darmstädter Glasmaler und Bildhauer Helmut Lander schuf eine eigenwillige Reliefwand aus graubraunem Beton, schroff und verstörend, eine Mauer, die Fragen aufwirft, statt Antworten zu geben. Auf dem Altarsockel wird diese Formensprache fortgesetzt. Der Künstler selbst sprach von einer „Ahnung“, von einem „Vorgriff auf nie Dagewesenes“. Der damalige Gemeindepastor Dietrich Kunze war begeistert von diesem irritierenden Kunstwerk und wusste den nüchternen Baustoff Beton theologisch und ästhetisch zu deuten: „Er ist so rissig wie Borke, er wächst nach oben, in scharfen Graten, er hat Höhlen und Nester. Wenn die Zugvögel Zugang hätten, würden sie darin brüten.“ Heute finden sich in einigen Höhlen des Wandreliefs leichte Spuren aus Kerzenruß, weil die Gemeinde an Feiertagen wie Ostern und Weihnachten kleine Teelichter hineinstellt. Auf diese Weise hat sich eine eigene Glaubenssprache in die Betonwände eingeschrieben.
Inzwischen ist das Ensemble viel zu groß geworden – und die Kirchengemeinde sorgt sich, wie viele andere Gemeinden auch, um die Zukunft ihrer Gebäude. Ein Teil der Anlage soll verkauft und anderweitig genutzt werden, die Kirche selbst aber wird ihrer Funktion treu bleiben. Hier sollen weiterhin Gottesdienste gefeiert werden, hier wird gebetet, gesungen, musiziert – und aktuell auch Theater gespielt. Kurz vor den Sommerferien hat das Theater für Niedersachsen (tfn) mit dem Monolog „Judas“ der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans in der Zwölf-Apostel-Kirche Premiere gefeiert: ein zeitgenössisches Stück über Verrat, Schuld und Leid, eine existenztielle Selbstbefragung. Das Gotteshaus aus rohem Beton ist nicht der schlechteste Ort dafür.
Die Kirche ist derzeit zu Gottesdienstzeiten und auf Anfrage im Gemeindebüro geöffnet. Das Monologstück „Judas“ mit dem tfn ist dort ab Oktober wieder zu sehen.
Karin Dzionara
Nachkriegsmoderne
Zu kühl, zu beliebig, zu viel Beton? Nie zuvor wurden so viele Kirchen gebaut wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch diese Gotteshäuser sind längst nicht so beliebt wie die mittelalterlichen Kathedralen. Nun ist man vielerorts dabei, die oft auch verborgene Schönheit moderner Kirchenbauten wieder zu entdecken. Viele von ihnen standen damals für einen religiösen Aufbruch. In einer kleinen Serie stellen wir Ihnen einige spannende Beispiele der Nachkriegsmoderne vor.