Thementag zum sexuellen Missbrauch Schutzbedürftiger
Kirche im Ohnmachtsanfall
Symbole, Worte und Taten stimmen in der Kirche häufig nicht überein. Im Bild: die symbolische Fußwaschung am Gründonnerstag. Foto: kna/Corinne Simon |
Das Schlimmste sei für viele Betroffene nicht der erlittene sexuelle Akt gewesen, berichtet Pater Hans Zollner, der Präsident des Kinderschutz-Zentrums an der päpstlichen Universität Gregoriana. Noch mehr habe es sie verletzt, der Übermacht eines Klerikers hilf- und schutzlos ausgeliefert zu sein. Über ihre Not und ihr beschädigtes Vertrauen nicht reden zu dürfen, der Lüge bezichtigt zu werden, verstärke ihr Gefühl von Ohnmacht zudem massiv. Die im Jahr 2018 vorgestellte MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands hat bestätigt, dass es einen Zusammenhang zwischen Machtmissbrauch und sexuellem Missbrauch nicht nur im subjektiven Empfinden der Opfer gebe, sondern dass es im Machtgefüge der Kirche manches gebe, das potenziellen Tätern in die Hand spiele.
Das „Heft des Handelns“ aus der Hand geben
Experten aus verschiedenen Fachgebieten gingen diesem Thema am 20. Februar im Dresdner Haus der Kathedrale mit rund 130 Tagungsteilnehmern aus den Bistümern Dresden-Meißen und Görlitz auf den Grund. Zu den kritischen Strukturen zählte Professor Zollner unter anderem eine unzureichende Gewaltenteilung, eine fehlende Rechenschaftspflicht, eine zu starke Machtkonzentration auf den Klerus und einen Mangel an Klarheit und Transparenz in der Ausübung von Autorität, die dann häufig durch autoritäres Gehabe ersetzt werde.
Der Würzburger Fundamentaltheologe Matthias Reményi wies auf die Verschleierung von Macht hin, die mit einer verbreiteten klerikalistischen Selbstüberhöhung einhergehe. So reagierten von Missbrauch Betroffene zum Beispiel äußerst sensibel darauf, wenn von der priesterlichen Berufung zum Dienen die Rede sei. Problematisch sah Reményi auch eine „Sakralisierung“ der Macht. Sie bringe kirchliche Amtsträger zum Beispiel dazu, aus dem Weihesakrament für sich den Anspruch abzuleiten, den Willen Gottes für andere Menschen zu kennen.
Zu einem angemesseneren Umgang mit Macht in der katholischen Kirche könnte es nach Ansicht des Bochumer Pastoraltheologen Matthias Sellmann beitragen, alle Leitungsämter nur auf Zeit zu vergeben und bei der Auswahl und Besetzung Transparenz walten zu lassen. Gesetzgebung und Rechtsprechung sollten auch in der Kirche getrennt werden, und bei der Verwendung der Kirchensteuern sollten Möglichkeiten zum Mitentscheid geschaffen werden, meint er. Hans Zollner schlug eine Informationspflicht gegenüber vom Missbrauch Betroffenen vor und die – längst in Aussicht gestellte – Schaffung einer unabhängigen Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Auch der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers hält es für unerlässlich, „das Heft des Handelns an unabhängige Frauen und Männer aus der Hand zu geben.“ Die Theologin Ulrike Irrgang aus Dresden sprach sich dafür aus, dem Priestertum aller Getauften stärker Rechnung zu tragen. Priester sollten die Deutungsmacht zur Auslegung biblischer Schriften mit theologisch gebildeten Laien teilen und eine größere Vielfalt von Perspektiven zulassen.
Der Jesuitenpater Hans Zollner mit Zuhörern im Dresdner Haus der Kathedrale. Auch der Veranstaltungsort hatte etwas Symbolträchtiges: er ist derzeit eine Baustelle. Foto: Michael Baudisch |
Auch wenn es nach wie vor viele Stimmen gebe, die das Thema an den Rand drängen möchten, treffe es die Kirche doch in ihrem zentralen Kern, machte Hans Zollner deutlich. In der Wahrnehmung eines Kindes sei es bei Missbrauchsfällen in der Kirche oft Gott, der es missbraucht habe. „Kann ich noch jemandem glauben, geschweige denn Gott?“, fragen sich viele Betroffene. „Wo war Gott, als ich gelitten habe?“ Die Kirche müsse sich die Frage stellen, was Gott in dieser Situation von ihr erwarte. Es brauche eine neue Theologie der Verwundbarkeit. Professor Sellmann warf die Frage auf, weshalb das Festhalten an der derzeitigen Form des Priestertums in seiner Bedeutung über den Wert der Eucharistie gestellt werde. „Wir müssen wieder glaubwürdig für die Menschen werden, die bisher nicht die Chance hatten, Gott kennenzulernen, denn darum geht es.“
Was ihm zehn Betroffene berichteten, die er im vergangenen Jahr traf, habe ihn verändert und betroffen gemacht wie keine je gehörte Schilderung zuvor, erzählte Heinrich Timmerevers. „Wir sind verpflichtet, uns intensiv damit auseinander zusetzen“, nicht zuletzt auch im Blick auf die hohe Kirchenaustrittswelle.
Kirche zeigt Symptome von Traumatisierung
Die Kirche als ganze befinde sich derzeit in einer Situation, die der von traumatisierten Menschen ähnele, hatte der Psychologe Hans Zollner zuvor erläutert. Traumatisierte blenden ihre bedrohlich empfundenen Erlebnisse aus, um ihren Alltag weiter bewältigen zu können. Dafür zahlen sie den Preis eingeschränkter Lebendigkeit und Kreativität. Sie fühlten sich dann oft innerlich gelähmt, mutlos, wüssten nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Werde die Traumatisierung nicht durchlitten und „bearbeitet“, werde sie in der Regel an die folgenden Generationen weitergegeben. In der Kirche habe sich die langjährige Verdrängung des Missbrauchs vergleichbar ausgewirkt. Zu beobachten sei in weiten Kreisen eine Art „Schockstarre“. Man stilisiere die Kirche oder den Klerus als Opfer und fühle sich ohnmächtig.
Der Synodale Weg könne dabei helfen, das Gefühl der Ohnmacht zu durchbrechen, in der sich viele Bischöfe derzeit befänden, sagte Bischof Timmerevers. Es sei wichtig, die aktuellen Fragestellungen anzugehen in einer Weise, die das Thema „nicht einfach zu den Akten lege“.
Von Dorothee Wanzek