Pfarrer Günter Hanisch im Interview zu Kirche und Gesellschaft

Kleine Schritte führen weiter

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Jahrzehntelang hat er im Bistum Verantwortung getragen, am 7. November wird Günter Hanisch 90 Jahre alt. Der Tag des Herrn fragt ihn nach seiner Sicht auf aktuelle Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft.

Von manchen Katholiken in Ihrem Alter ist zurzeit, wenn das Gespräch auf die Kirche kommt, vor allem Klage zu hören. Alles, was ihnen bisher lieb und wertvoll war, gehe gerade „den Bach herunter“. Teilen Sie diese Sicht?
 
In 90 Jahren habe ich viele Veränderungen miterlebt – zuerst natürlich an mir selbst. Viele Veränderungen in der Kirche habe ich sehr positiv wahrgenommen, insbesondere die des Konzils. Da wurden Träume Wirklichkeit. Gegenwärtig sehe ich, dass sich manches zum Negativen, manches zum Positiven verändert. Zu welcher Bewertung der Einzelne jeweils kommt, hängt natürlich von seinen Erwartungen ab. Jemand, der von der Seelsorge eine sehr individuelle Betreuung erwartet hat, wird dies in Anbetracht der kleiner werdenden Zahl von Priestern gewiss schmerzlich vermissen. Er wird beispielsweise enttäuscht sein, dass der Pfarrer nicht persönlich zu seinem runden Geburtstag kommt. Als Ruhestandspriester bin ich dieser Entwicklung ja kaum  noch  ausgesetzt. Ich genieße es, Zeit zu haben. Eine Stunde in der Woche stehe ich für die Beichte in der Hofkirche zur Verfügung. Wenn jemand länger braucht, kann ich mir die Zeit nehmen.
Günter Hanisch ist mit fast 90 Jahren der älteste noch aktive Priester des Bistums Dresden-Meißen.    Foto: Dorothee Wanzek

Dennoch entgehen mir die Veränderungen natürlich nicht. Es gibt eine Reihe Fragen, über die weiter nachgedacht und gesprochen werden sollte, zum Beispiel: Wie kann das, was man bisher mit dem Begriff Seelsorge bezeichnet hat, weitergehen? Die Krankenhausseelsorge in Dresden wird gegenwärtig zum großen Teil von Nichtpriestern geleistet. Patienten, die an ihrem Krankenbett einen Priester erwarten, mögen enttäuscht sein. Dabei sagt das nichts über die Güte der Seelsorge aus. Als ich 1984 Pfarrer in der gerade neu entstandenen Leipziger Propsteikirche wurde, hörte ich erstmals die Devise meines verstorbenen Vorgängers, die mir bis heute gegen Enttäuschungen hilfreich zu sein scheint. Er rief dazu auf, einen Wandel zu vollziehen von einer versorgten Gemeinde hin zu einer sorgenden Gemeinde.

 
Vor fünfzig Jahren begann die Meißner Synode, an deren  Vorbereitung und Durchführung Sie maßgeblich beteiligt waren. Meinen Sie, dass diejenigen, die gerade den synodalen Prozess der katholischen Kirche in Deutschland auf den Weg bringen, von Ihren damaligen Erfahrungen etwas lernen könnten?
 
Sie könnten lernen, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. Zu hohe Erwartungen schlagen schnell in Enttäuschung um. Sehr positiv an der Meißner Synode sehe ich bis heute, dass Priester und Laiensynodale in der Abstimmung gleichberechtigt waren und dass eine offene Diskussion möglich war. Man meinte, dass die gefassten Beschlüsse bereits rechtskräftig waren.
Tatsächlich waren die Beschlüsse aber Empfehlungen an den Bischof, der sie erst in Kraft setzen musste. Für Bischof Otto Spülbeck war es fast selbstverständlich, die meisten Beschlüsse zu bestätigen. Er starb bekanntlich aber sehr bald. Laut Kirchenrecht stirbt eine Synode mit dem Tod des Bischofs. Sein Nachfolger Gerhard Schaffran hätte die Synode wohl gerne beendet, wollte den Synodalen aber diese Enttäuschung nicht zumuten. Tatsächlich hat er dann aber viele Beschlüsse nicht bestätigt oder nicht umgesetzt. Den Akteuren des synodalen Prozesses könnte ein Wort von Papst Johannes XXIII hilfreich sein: „Wer kleine Schritte macht, kommt weiter.“ Manches muss einfach wachsen. Schnelle Scheinblüten verblühen auch schnell, ohne Frucht zu bringen.
 
Nicht immer werden bei demokratischen Wahlen die geistreichsten gewählt, zuweilen eher die lautesten. Kann man Ihrer Ansicht nach darauf vertrauen, dass der Heilige Geist bei demokratisch gewählten Vertretern kirchlicher Gremien trotzdem wirkt?
 
Es gibt in dieser Frage zwei extreme Sichten. Die einen sagen „Vox populi vox Dei (Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“, die anderen halten dagegen „Vox populi vox Rindvieh“. Die Wahrheit liegt wohl dazwischen. Fehler machen ja aber nicht nur die demokratisch gewählten Verantwortungsträger in der Kirche, sondern auch  die durch ihre Vorgesetzten eingesetzten und geweihten. Trotzdem sollten wir darauf vertrauen, dass im Letzten doch der Heilige Geist die Kirche lenkt, wenngleich manchmal mit langem Atem und nicht immer in gleichem Maße spürbar.
 
Ungeduld ist in Deutschland gegenwärtig besonders unter  Frauen zu spüren, die sich in der katholischen Kirche stärkere Beteiligung wünschen. Wo sehen Sie den Platz der Frauen in der Kirche?
 
Ich halte es da mit Paulus, der im Galaterbrief schreibt: „...es gibt nicht mehr männlich und weiblich, ihr alle seid einer in Jesus Christus.“ Glaubwürdig Christus bezeugen können wir als Kirche nur in einem guten Miteinander von Frauen und Männern. Das umzusetzen, ist ein langer Weg. Als ich 1971 Dompfarrer in der Hofkirche wurde, durften nur Männer Ministranten sein. Ich habe dann die Diskussionen über Frauen als Kommunionhelferinnen und Ministrantinnen miterlebt, die 1954 zur Zeit meiner Priesterweihe in aller Öffentlichkeit noch undenkbar gewesen wären. Ich habe gute Erfahrungen gemacht mit Frauen in kirchlichen Verantwortungspositionen, etwa in den Pfarrgemeinderäten. Eine Frau zu sein, disqualifiziert niemanden für eine Aufgabe, allerdings ist allein dadurch, Frau zu sein, natürlich auch niemand für eine Aufgabe qualifiziert.
 
Durch wachsende Polarisierungen steht auch die Kirche an vielen Stellen vor Zerreißproben. Was braucht es, um die Einheit zu wahren?
 
Die Verantwortung dafür liegt bei uns allen. Freiheit ist nur eine christliche Freiheit, wenn sie mit Verantwortung gepaart ist, sonst wird sie zur Willkür. Verantwortung in der Kirche ist immer auch Verantwortung vor Gott. Jeder sollte sich, bevor er öffentlich Position bezieht, fragen: Was würde Jesus zu dieser Frage sagen?
Die wichtigste Frage, wenn ein Kompromiss verhandelt wird, lautet: Ist der verantwortbar? Um möglichst viele mitzunehmen, muss man unter Umständen etwas langsamer laufen. Im Alter muss man das ja sowieso.
Polarisierung ist ja in vielen gesellschaftlichen Bereichen spürbar und ist oft mit einer Vereinfachung der Wirklichkeit verbunden. Das Leben ist aber nicht schwarz-weiß, es hat eine Menge Grautöne.
 
Erst vor kurzem wurde in Halle ein Anschlag auf eine Synagoge verübt. Sie haben den Nationalsozialismus als Kind und Jugendlicher noch bewusst miterlebt. Sind die Menschen unfähig, aus ihrer Geschichte zu lernen?
 
Diese Frage bewegt mich sehr. Ich bin im gleichen Jahr geboren wie Anne Frank – und im übrigen auch im gleichen Jahr wie Martin Luther King und wie Arafat.
Als Kind habe ich die Judenpogrome miterlebt, als ich meinem Vater, einem Leipziger Orthopädieschuhmacher, in seinem Geschäft half. Am 9. November 1938 hatte sich mein Vater geweigert, das Schild „arisch“ an seiner Ladentür anzubringen, das den Nationalsozialisten als Signal gelten sollte, seine Schaufenster zu verschonen. Als ich die Scheiben in der Nähe klirren hörte, habe ich den Vater flehentlich gebeten, das Schild doch herauszuhängen. Widerwillig hat er es daraufhin getan. Ich habe lebendig in Erinnerung, wie Juden von 1941 an vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren. Sie mussten den Stern tragen, auf den Bänken im Rosenthal stand „Für Juden verboten“, sie durften nicht mehr Straßenbahn fahren. Ich erinnere mich, wie vornehme Leute vor unserem Laden warteten, bis keine weiteren Kunden da waren und dann verstohlen hereinhuschten und sich ihre Schuhe holten. Ich weiß noch, wie seltsam ich es einmal fand, dass eine mit Pelzmantel gekleidete Kundin meinem Vater sagte, sie habe kein Geld zum Bezahlen. Auffällig schrieb ich auf ihre Rechnung den Vermerk „Nicht bezahlt!“ Da schaute sie mich an und sagte: „Junge, du wirst nochmal verstehen!“ Als sie gegangen war, schimpfte mein Vater heftig mit mir.
In Folge dieser Erfahrungen habe ich mich als Propst in Leipzig sehr für die christlich-jüdische Verständigung eingesetzt.
Die Frage „Was ist der Mensch?“ stellt sich immer wieder. Er ist versuchbar, verführbar, er hat Angst. Was würden Menschen heute tun, wenn sie aus ihrer vermeintlichen Sicherheit heraustreten müssten, um sich für Verfolgte einzusetzen? Mitläufer, die sich hinter der Mehrheit verstecken und der Meinung sind, nichts Schlimmes zu tun, sind die eigentliche Bedrohung der Demokratie. Ich wüsste keine bessere Staatsform als die Demokratie, aber sie ist kein Allheilmittel und sie hängt davon ab, dass einzelne sich entscheiden, Verantwortung zu übernehmen und zu fragen: Wohin führt der Weg, auf dem ich gehe? Menschen sind heute, nicht zuletzt durch die Möglichkeiten des Internets, sehr schnell manipulierbar. Ich habe mich in meinem Leben immer an eine Weisheit zu halten versucht, die Gilbert Chesterton einmal so formulierte: Wer handelt, kann manches falsch machen. Wer nicht handelt, macht unter Umständen alles falsch.
 
Sie stehen kurz vor Ihrem 90. Geburtstag. Wie geht es Ihnen?
 
Seit dem Sommer merke ich deutlich, dass ich alt werde. Einladungen außerhalb von Dresden nehme ich seither nicht mehr an, weil ich einfach zu wackelig auf den Beinen bin. Dankbar bin ich, dass ich mich auf meinen Kopf noch verlassen kann.
Der Künstler Franz Maidburg hat in Reliefs in der Annenkirche in Annaberg-Buchholz die Lebensalter der Frauen und der Männer allegorisch dargestellt. Für das  90. Lebensjahr des Mannes steht der Esel. Ich habe ein positives Verhältnis zu diesem Tier. Es kann Lasten tragen. In meinem Alter gibt es einiges zu tragen, besonders durch die nachlassende Gesundheit. Der Esel ist aber auch störrisch, das ist eine Gefahr, die dieses Alter mit sich bringt.
Bevor Angelo Roncalli Papst wurde, schickte man ihn als Nuntius nach Paris. Als er einmal darauf angesprochen wurde, warum man ausgerechnet ihn für diesen Posten ausgewählt habe – er entsprach schon rein äußerlich nicht den Erwartungen, den manche an einen Diplomaten in der mondänen Metropole richteten – soll er gesagt haben: „Dort im Gebirge, wo die Pferde nicht mehr weiterkommen, sind die Esel gefragt...“

Interview: Dorothee Wanzek