Pfarrer Günter Hanisch im Interview zu Kirche und Gesellschaft
Kleine Schritte führen weiter
Günter Hanisch ist mit fast 90 Jahren der älteste noch aktive Priester des Bistums Dresden-Meißen. Foto: Dorothee Wanzek |
Dennoch entgehen mir die Veränderungen natürlich nicht. Es gibt eine Reihe Fragen, über die weiter nachgedacht und gesprochen werden sollte, zum Beispiel: Wie kann das, was man bisher mit dem Begriff Seelsorge bezeichnet hat, weitergehen? Die Krankenhausseelsorge in Dresden wird gegenwärtig zum großen Teil von Nichtpriestern geleistet. Patienten, die an ihrem Krankenbett einen Priester erwarten, mögen enttäuscht sein. Dabei sagt das nichts über die Güte der Seelsorge aus. Als ich 1984 Pfarrer in der gerade neu entstandenen Leipziger Propsteikirche wurde, hörte ich erstmals die Devise meines verstorbenen Vorgängers, die mir bis heute gegen Enttäuschungen hilfreich zu sein scheint. Er rief dazu auf, einen Wandel zu vollziehen von einer versorgten Gemeinde hin zu einer sorgenden Gemeinde.
Tatsächlich waren die Beschlüsse aber Empfehlungen an den Bischof, der sie erst in Kraft setzen musste. Für Bischof Otto Spülbeck war es fast selbstverständlich, die meisten Beschlüsse zu bestätigen. Er starb bekanntlich aber sehr bald. Laut Kirchenrecht stirbt eine Synode mit dem Tod des Bischofs. Sein Nachfolger Gerhard Schaffran hätte die Synode wohl gerne beendet, wollte den Synodalen aber diese Enttäuschung nicht zumuten. Tatsächlich hat er dann aber viele Beschlüsse nicht bestätigt oder nicht umgesetzt. Den Akteuren des synodalen Prozesses könnte ein Wort von Papst Johannes XXIII hilfreich sein: „Wer kleine Schritte macht, kommt weiter.“ Manches muss einfach wachsen. Schnelle Scheinblüten verblühen auch schnell, ohne Frucht zu bringen.
Die wichtigste Frage, wenn ein Kompromiss verhandelt wird, lautet: Ist der verantwortbar? Um möglichst viele mitzunehmen, muss man unter Umständen etwas langsamer laufen. Im Alter muss man das ja sowieso.
Polarisierung ist ja in vielen gesellschaftlichen Bereichen spürbar und ist oft mit einer Vereinfachung der Wirklichkeit verbunden. Das Leben ist aber nicht schwarz-weiß, es hat eine Menge Grautöne.
Als Kind habe ich die Judenpogrome miterlebt, als ich meinem Vater, einem Leipziger Orthopädieschuhmacher, in seinem Geschäft half. Am 9. November 1938 hatte sich mein Vater geweigert, das Schild „arisch“ an seiner Ladentür anzubringen, das den Nationalsozialisten als Signal gelten sollte, seine Schaufenster zu verschonen. Als ich die Scheiben in der Nähe klirren hörte, habe ich den Vater flehentlich gebeten, das Schild doch herauszuhängen. Widerwillig hat er es daraufhin getan. Ich habe lebendig in Erinnerung, wie Juden von 1941 an vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren. Sie mussten den Stern tragen, auf den Bänken im Rosenthal stand „Für Juden verboten“, sie durften nicht mehr Straßenbahn fahren. Ich erinnere mich, wie vornehme Leute vor unserem Laden warteten, bis keine weiteren Kunden da waren und dann verstohlen hereinhuschten und sich ihre Schuhe holten. Ich weiß noch, wie seltsam ich es einmal fand, dass eine mit Pelzmantel gekleidete Kundin meinem Vater sagte, sie habe kein Geld zum Bezahlen. Auffällig schrieb ich auf ihre Rechnung den Vermerk „Nicht bezahlt!“ Da schaute sie mich an und sagte: „Junge, du wirst nochmal verstehen!“ Als sie gegangen war, schimpfte mein Vater heftig mit mir.
In Folge dieser Erfahrungen habe ich mich als Propst in Leipzig sehr für die christlich-jüdische Verständigung eingesetzt.
Die Frage „Was ist der Mensch?“ stellt sich immer wieder. Er ist versuchbar, verführbar, er hat Angst. Was würden Menschen heute tun, wenn sie aus ihrer vermeintlichen Sicherheit heraustreten müssten, um sich für Verfolgte einzusetzen? Mitläufer, die sich hinter der Mehrheit verstecken und der Meinung sind, nichts Schlimmes zu tun, sind die eigentliche Bedrohung der Demokratie. Ich wüsste keine bessere Staatsform als die Demokratie, aber sie ist kein Allheilmittel und sie hängt davon ab, dass einzelne sich entscheiden, Verantwortung zu übernehmen und zu fragen: Wohin führt der Weg, auf dem ich gehe? Menschen sind heute, nicht zuletzt durch die Möglichkeiten des Internets, sehr schnell manipulierbar. Ich habe mich in meinem Leben immer an eine Weisheit zu halten versucht, die Gilbert Chesterton einmal so formulierte: Wer handelt, kann manches falsch machen. Wer nicht handelt, macht unter Umständen alles falsch.
Der Künstler Franz Maidburg hat in Reliefs in der Annenkirche in Annaberg-Buchholz die Lebensalter der Frauen und der Männer allegorisch dargestellt. Für das 90. Lebensjahr des Mannes steht der Esel. Ich habe ein positives Verhältnis zu diesem Tier. Es kann Lasten tragen. In meinem Alter gibt es einiges zu tragen, besonders durch die nachlassende Gesundheit. Der Esel ist aber auch störrisch, das ist eine Gefahr, die dieses Alter mit sich bringt.
Bevor Angelo Roncalli Papst wurde, schickte man ihn als Nuntius nach Paris. Als er einmal darauf angesprochen wurde, warum man ausgerechnet ihn für diesen Posten ausgewählt habe – er entsprach schon rein äußerlich nicht den Erwartungen, den manche an einen Diplomaten in der mondänen Metropole richteten – soll er gesagt haben: „Dort im Gebirge, wo die Pferde nicht mehr weiterkommen, sind die Esel gefragt...“
Interview: Dorothee Wanzek