Kreuzweg im Hildesheimer Mariendom

Leid und Tod einen Raum geben

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Pünktlich zur Fastenzeit hat der Hildesheimer Dom wieder einen Kreuzweg. Angefertigt hat ihn der Rottweiler Künstler Tobias Kammerer aus Stahlguss.


„Die Gesichtszüge der Mutter Gottes sind angespannt.
Man kann förmlich spüren, wie sie mit ihrem Sohn mitleidet“,
sagt Domdechant Weihbischof Heinz-Günter Bongartz.
 

Der Kreuzweg in Form des Abgehens von verschiedenen Stationen des Leidens Jesu hat eine lange Tradition und reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass er seinen Ursprung in Jerusalem hatte. Franziskaner führten fromme Pilger zu den Punkten, die Jesus auf seinem letzten Weg bis nach Golgotha zurückgelegt hat. An einigen Stellen erinnerten schon früh Kirchen oder Kapellen an den Leidensweg des Herrn.

Ins Abendland kam der Kreuzweg im 15. Jahrhundert mit sieben Stationen, angelehnt an die sieben Stationskirchen in Rom. Im 18. Jahrhundert gab die Kongregation für Ablässe und Reliquien eine Anleitung zum Beten des Kreuzwegs jetzt bereits mit 14 Stationen heraus.

Begegnung mit dem Kreuz gehört zum Leben

Nun hat auch der Hildesheimer Dom wieder einen Kreuzweg. „Das war dem Domkapitel und mir ein wichtiges Anliegen. Viele Menschen hatten mich darauf angesprochen, dass ihnen der Kreuzweg in unserem Dom fehle“, sagt Domdechant Weihbischof Heinz-Günter Bongartz. „Denn wir brauchen die Begegnung mit dem Kreuz, weil es fundamental zu unserem Leben gehört. Das Leid ist Bestandteil unseres Lebens.“

Für Bongartz hat der Kreuzweg eine besondere Bedeutung: „Er hebt die Würde des Menschen in seinem Leid ins Bild und gibt Tod und Leid einen Raum.“

So schrieb das Domkapitel 2018 den Kreuzweg aus. „Dabei war es uns ein Anliegen, dass er nicht so abstrakt sein sollte, dass er nicht mehr verstanden wird, aber er sollte auch nicht zu realistisch sein, dass er keinen Raum für Deutung zulässt. Und er sollte sich in das Gesamtbild des Domes einfügen“, beschreibt Bongartz die Vorgaben. Mehrere Vorschläge wurden eingereicht.

Den Zuschlag bekam Tobias Kammerer, ein zeitgenössischer Künstler aus Rottweil. Er hat Erfahrung in religiöser Kunst, sowohl im malerischen als auch im figürlichen Bereich. „Um sich nicht zu sehr an die bestehenden Kunstgegenstände optisch anzugleichen, wählte man bewusst keinen Bronzeguss, denn die Bernwardsäule und die Bernwardsür sind einst im Bronzegussverfahren hergestellt worden. So fiel die Wahl auf einen Stahlguss, der dann durch Korrosion seine rötliche Farbigkeit bekam“, erklärt Tobias Kammerer. Gerade dem Rost kommt eine besondere Deutung zu. „Die Verrostung ist ein Zeichen der Vergänglichkeit, des Weltlichen, des Verletzlichen, des Zeitlichen“, deutet Bongartz.
 


Vorsichtig befestigt Tobias Kammerer die 13. Station,
die Abnahme vom Kreuz. Deutlich zu sehen sind die
Seitenwunde und die durchnagelte Hand.

Doch der Kreuzweg ist nicht nur eine Geschichte, die zur Zeit Jesu spielt. Für Tobias Kammerer ist er sehr aktuell. Ausgehend von der Verurteilung durch Pilatus sagt er: „Allzu oft werden Menschen durch üble Nachrede, falsche Behauptungen oder mediale Hetze vorverurteilt. Genauso wie vor 2000 Jahren nehmen die meisten Menschen, ohne den Sachverhalt auf Richtigkeit zu kontrollieren oder selber die Wahrheit zu recherchieren, die Verleumdungen an und verurteilen die beschuldigten Personen, zeigen mit dem Finger auf sie und stürzen sie ins Unglück. Zu oft reicht die eigene Zivilcourage nicht aus, dagegen aufzustehen.“

Ein Leid, das einfach nur zum Schreien ist

Dabei geht es auch um die Würde des Menschen. „Der Kreuzweg gewährt einen Einblick in die Tiefe des Lebens. Im Leiden Jesu und auch der Personen, die am Wege stehen, können wir das menschliche Leid wiedererkennen. Es ist ein Blick in die Tiefe des Lebens. Und der Kreuzweg will darauf aufmerksam machen, dass der Mensch auch im Leid ein Anrecht auf seine Würde hat“, so Bongartz.

Wenn Kammerer seinen Kreuzweg betrachtet, merkt man, dass er sich intensiv mit den einzelnen Stationen auseinandergesetzt hat. „In den einzelnen Reliefs sind die Verzweiflung, die Tat der Peiniger, aber auch die Trauer wie zum Beispiel bei der Begegnung mit den weinenden Frauen ausdrucksvoll zu sehen. Bilder, die in Erinnerung bleiben und uns ermahnen sollen und uns daran erinnern sollen, was Jesus erlitten hat. Eine Aufopferung für uns und unsere Schuld, gleichsam ein Beweis seiner Liebe zu uns Menschen“, beschreibt der Künstler.

Beeindruckt ist der Weihbischof von der Darstellung der Todesstunde. „Jesus stirbt, in dieser Station ist viel vom Markus-Evangelium eingefangen. Der Schrei Jesu – es gibt ein Leid, das einfach nur zum Schreien ist. Und der Hauptmann erlebt dieses Sterben mit und kommt dadurch zum Glauben. Eigentlich unvorstellbar, da kommt jemand durch den Tod zum Glauben.“

Und: Mit dem Tod ist nicht Schluss. „Das wird deutlich in der sehr gelungenen letzten Station, der Grablegung. Die Darstellung ist minimalistisch gehalten. Hinter dem Leichentuch kommt eine Hand hervor. Ein Hinweis, eine Andeutung hin auf die Auferstehung. Der Kreuzweg macht deutlich, Gott ist immer bei uns, auch in unseren dunkelsten Stunden. Der Tod ist nicht das Letzte, er kann das Leben nicht aufhalten. Im Tod und in der Auferstehung ist Gott immer zugegen“, betont Bongartz.

Edmund Deppe