Russische Enklave Kaliningrad sucht Anschluss an Europa

Löhne wie in Madagaskar

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Die russische Enklave Kaliningrad versucht Anschluss an Europa zu finden. Dabei helfen auch die verschiedenen Kirchen, die ihr Misstrauen gegeneinander inzwischen weitgehend abgelegt haben.

Die Kirchen helfen, die materielle Armut in der Region Kaliningrad zu mildern: Schwester Teresa Popova im katholischen Kindererholungsheim in Kulikova mit zwei Mädchen, von denen eine Krebs hat.    Fotos: Benedikt Vallendar

 

„Packt die Kinderhosen nach oben rechts“, sagt die junge Frau, während Helferinnen die besten Stücke aussortieren und leere Kartons in den Gang schieben. Zu Besuch bei „Wings of Help“, zu Deutsch: Flügeln der Hoffnung, einer karitativen Privatinitiative im russischen Kaliningrad. Mitten im Gewerbegebiet haben junge Mütter und Väter kürzlich zwei Lagerräume mit angeschlossenem Büro angemietet, um sozial schwachen Familien zur Seite zu stehen. Der Verein lebt von Spenden.
Zweimal in der Woche ist Sprechstunde. Alleinerziehende Mütter bitten dann um Hilfe bei Behördengängen, aber auch um Kleidung, Schulsachen oder gebrauchtes Spielzeug, sagt Natascha Lishakova, die heute Bürodienst hat. Vor ihr füllt eine junge Frau Formulare aus, während sich die dreijährige Lioba buntes Gummikonfekt aus Deutschland in den Mund steckt. „Das meiste von dem, was Sie hier sehen, stammt aus der Region, manches aber auch aus dem Ausland, aus Österreich und der Schweiz“, sagt Lishakova. „Wir sehen uns als Teil der russischen Zivilgesellschaft“, fügt ihre Kollegin Dasha Timirev (34) hinzu.
Mit ihrer Familie lebt die diplomierte Juristin im rund 40 Kilometer entfernten Seebad Swetlogorsk, dem früheren Rauschen. Regelmäßig bringen sie und ihr Mann Ivan gespendete Sachen vorbei. „Besonders im Winter ist der Bedarf an warmer Kleidung hoch“, sagt Dasha Timirev. Denn trotz deutlicher Fortschritte beim Ausbau der Infrastruktur ist Armut in Kaliningrad noch immer ein Thema. Die Durchschnittslöhne für Arbeiter und Angestellte ohne akademische Bildung kaum höher als in Indien oder auf Madagaskar. Und das bei mitteleuropäischen Preisen, vom Benzin einmal abgesehen.

200 Kirchen vor dem Einmarsch der Sowjets
Die daraus resultierenden Probleme zu lindern, haben sich auch die örtlichen Kirchengemeinden auf die Fahne geschrieben. Rund 200 gab es von ihnen bis zum Einmarsch der Sowjets im April 1945. Heute sind einige der zu Sowjetzeiten zweckentfremdeten Gotteshäuser zu neuem Leben erwacht, etwa in Znamiensk, dem früheren Wehlau, wo am Ortseingang nun wieder eine katholische Kirche steht.
Doch nicht nur schöne Gebäude sind in Kaliningrad neu entstanden. Die Kirchen, ob protestantisch, orthodox oder katholisch, helfen der Region auch sozial weiter auf die Beine. Sie betreiben Suppenküchen, Kindererholungsheime und kümmern sich um Senioren, wie etwa in Gwardejsk, dem früheren Tapiau, wo Steyler Missionare zentrumsnah im Haus St. Josef die Stellung halten und sich über wachsendes Interesse am Gemeindeleben freuen, wie es aus der Ordensleitung heißt. In den vatikanischen Farben Gelb und Weiß und mit einem übermannsgroßen Kreuz an der Außenfassade strahlt das frisch sanierte Gebäude aus den 1920er Jahren nun in den Ort hinein.

 

Kleiderausgabe-Obdachlose: „Besonders im Winter ist der Bedarf an warmer Kleidung groß.“

 

Das Erfreuliche: Offenbar gibt es zwischen den Konfessionen kaum noch Berührungsängste, wie noch vor 20 Jahren, als sich Protestanten, Orthodoxe und Katholiken misstrauisch beäugten und lieber ihr eigenes Süppchen kochten, anstatt auf die anderen zuzugehen. „Wir haben einen deutlichen, positiven Stimmungswandel in der Enklave zu verzeichnen“, sagt Thomas Schumann, Pressesprecher von Renovabis in Freising bei München. Renovabis ist das Hilfswerk der deutschen Katholiken für Osteuropa und die Teilrepubliken der früheren Sowjetunion.

700 Euro sind schon ein gutes Einkommen
Seit Anfang der 1990er Jahre sind im sozialen Gefüge Kaliningrads vor allem die Schönstätter Marienschwestern zu einer Art „Institution“ geworden. Der Orden ist bereits kurz nach der Wende „nach Osten“ gezogen, heißt es in einer Werbebroschüre.
Das trotz deutlicher Entwicklungsschübe weiter arme Kaliningrad, wo ein Monatsgehalt von 50 000 Rubel, knapp 700 Euro, für eine fünfköpfige Familie schon als gutes Einkommen gilt, ist heute Schauplatz säkularer und christlicher Organisationen, die daran mitwirken, dass das frühere Ostpreußen den Anschluss an die Europäische Union findet.
Dort ist man zurzeit nicht gut auf die Regierung Putin zu sprechen. Die Sanktionen der Europäischen Union (EU) wegen der Krimkrise betreffen auch das kleine Eiland zwischen Polen und Litauen. Der Handel stockt, und noch nicht immer gelingt es russischen Anbietern, entstandene Versorgungslücken zu schließen. Hinzu kommt: „Bei der Ausreise wird jedes Fahrzeug genau unter die Lupe genommen, was Wartezeiten von vier und mehr Stunden bedeutet“, beklagt Dasha Timirev. Sie sagt das in einem geduldigen, fast freundlichen Tonfall, bei dem unterschwellig der Wunsch nach mehr Freizügigkeit unverhohlen mitschwingt.

 

Gottesdienst in der Kirche Hl. Familie in Kaliningrad.

 

Kostenloses Onlinevisum für EU-Bürger
Immerhin: Seit dem 1. Juli können EU-Bürger mit gültigem Reisepass und kostenlosem Onlinevisum für maximal acht Tage nach Kaliningrad einreisen. Spätestens vier Tage vor Einreise muss das Visum im Internet beantragt werden. Ab 1. Oktober soll diese Regelung auch für St. Petersburg gelten. „Wir haben damit den ersten Schritt gemacht, jetzt seid ihr Europäer am Zuge“, sagt Dashas Ehemann Ivan, der beim Gaskonzern Gasprom arbeitet.
„Die Regierung will damit vor allem den Tourismus ankurbeln“, sagt die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer. Denn trotz mittlerweile gut ausgebauter Straßen und allerorten sichtbarer Bemühungen, Spielplätze, Fußwege und öffentliche Plätze schön herzurichten, mangelt es weiter an zahlungskräftigen Besuchern. Von den kürzlich errichteten Eigentumswohnungen an der Strandpromenade in Swetlogorsk warten nicht wenige auf Käufer, und nur wenige Kilometer landeinwärts will ein Hotelier sein schmuckes Haus schon wieder verkaufen, weil es sich nicht rentiere, wie vor Ort berichtet wird. Gleich nebenan hatte vor wenigen Jahren ein Niederländer gar eine Prachtvilla hochgezogen. Nun steht sie zum Verkauf, für rund 800 000 Euro, ohne dass es Interessenten gäbe. Das Problem: Die meisten Besucher, die durch die liebevoll sanierte Innenstadt von Swetlogorsk schlendern, sind Tagesgäste aus Kaliningrad, die nur relativ wenig Geld in der Stadt lassen, obgleich das geschäftige Treiben zwischen den deutschen Gründerzeitvillen einen Eindruck davon vermittelt, wie es hier vor dem Krieg einmal ausgesehen hat.

Von Benedikt Vallendar