Einsamkeitsbeauftragter

Mal reden können

Image
Nicht nur in Zeiten der Isolation wegen der Corona-Krise ist Einsamkeit für viele Menschen eine Belastung. Viele Initiativen, auch kirchliche, bemühen sich, sie zu lindern. Ist ein Einsamkeitsbeauftragter die Lösung?

Einsamkeit: Niemand ist davor gefeit. Die Gründe für soziale Isolation sind vielfältig.    Foto: kna/Joanna Nottebrock

 

„Er könnte Zahlen, Daten, Fakten koordinieren, Kampagnen gegen Einsamkeit starten und auf das Thema aufmerksam machen.“ So zeichnet die Gründerin von „Silbernetz“, Elke Schilling, ein Luftschloss. Von einem „Einsamkeitsbeauftragten“ ist die Rede. Ein sperriges Wort mit lebensnahem Inhalt.
Die 75-jährige Mathematikerin und Statistikerin bezieht sich dabei auf englische Vorbilder, wo es schon lange Einsamkeitsbeauftragte gibt und seit 2018 sogar ein Ministerium gegen Einsamkeit existiert. In England hat sich die Ehrenamtliche immer wieder Anregungen eingeholt, nach dem Muster von „Silverline“ hat sie ihr „Silbernetz“ in Berlin ab 2014 aufgebaut, einer Hotline für
Einsame.
 

Berlin ist von englischen Verhältnissen meilenweit entfernt
Doch von englischen Verhältnissen ist Berlin in seiner Bekämpfung von Einsamkeit meilenweit entfernt. Dabei ist das Klientel reichlich vorhanden. Nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg lebten in der Hauptstadt 41 Prozent der Bevölkerung im Alter ab 60 Jahre in einem Einpersonenhaushalt, 66,5 Prozent der Bevölkerung ab 85 Jahre in einem Einpersonenhaushalt. Die Berliner Familienpolitikerin Emine Demirbüken-Wegner (CDU) spricht über ihre Heimat von der „Hauptstadt der Einsamkeit“.
Vor Einsamkeit ist niemand gefeit. Die Gründe für soziale Isolation sind vielfältig. Stürze, Taubheit, Blindheit, die ans Haus fesseln oder vor Kontakten zurückschrecken lassen, der Tod eines Angehörigen, der ein Lebenskonstrukt, das auf gegenseitige Hilfe angelegt war, zerstört, Armut im Alter, die vom teuren Leben mit Kino, Theater, Konzert, Reisen ausschließt.
„Mal reden können“, lautet die Devise von Silbernetz. Für die Betroffenen ist das kostenlos, Silbernetz finanziert sich aus Spenden und öffentlichen Geldern. Abladen, aufladen, ansprechen, aussprechen. Die meisten, die hier anrufen, haben niemanden, bei dem sie sich die Seele frei reden können. Sie suchen nach Zuspruch, wollen Bestätigung. Die hauptamtlichen Telefonisten schenken ihnen ein offenes Ohr, wenn sie allein nicht mehr weiterwissen.
Die Telefonistin an ihrem Platz, gedämpft von den Kollegen an den Nachbarplätzen durch spanische Wände, animiert durch angeheftete Kalendersprüche vor ihren Augen wie „Mit Sonne im Herzen geht es leichter“, „Lächle und die Welt verändert sich“, „Das Glück liegt im Hier und Jetzt“. Die Anruferin am anderen Ende erzählt und klagt, sie habe so viele Termine.
Die Telefonistin stimmt zu, fragt nach, ermuntert sie, gibt Tipps. An der Decke wacht ein Schallmesser, dass alle Telefonisten ruhig bleiben. Wenn es zu laut wird, blinkt er. Kein Anrufer soll den Eindruck gewinnen, es handele sich hier um Massenabfertigung. Das Telefonat dauert keine zehn Minuten, andere können Stunden dauern. Die junge Telefonistin sagt später, sie erkenne schon am Klang der Stimme, in welcher Verfassung jemand ist. Ihr Bruder sei Pianist.
 

Elke Schilling    Foto: Almut Lüder

„Die Menschen strahlen Freundlichkeit aus, wenn man ihnen zuhört“
Wie Silbernetz gibt es etliche andere Angebote in Berlin. Im musikalischen, sozialen, sportlichen, kirchlichen Bereich. Pater Markus Mönch von den Herz-Jesu-Priestern in Berlin zum Beispiel hat nach dem gemeinsamen Aufruf des öffentlich-rechtlichen Radiosenders RBB und dem sozialen Netzwerk für Nachbarn „nebenan.de“ „Weihnachten für Einsame“ angeboten und durchgeführt. 2019 seien 30 Personen seiner Einladung nach Prenzlauer Berg gefolgt. Sie haben gemeinsam die Christmette gefeiert, anschließend am Weihnachtsbaum Texte vorgelesen und das von den Teilnehmern mitgebrachte Buffet genossen.
„Die Menschen strahlen Freundlichkeit aus, wenn man ihnen zuhört“, hat der Pater erlebt. Aber auch sonst biete die Kommunität Maßnahmen gegen Einsamkeit an, wie Pilgern auf dem brandenburgischen Jakobsweg oder ein Treffen am Valentinstag. Niemand soll in der Anonymität der großen Stadt verloren gehen. Hannah Kappes, Pressesprecherin von „nebenan.de“ hat bereits angekündigt, die Aktion „Wir Weihnachten“ 2020 fortzusetzen.
 

Informationen erreichen Betroffene oft nicht
Elke Schilling weiß von den vielen Angeboten in der 3,6-Millionen-Einwohner-Stadt. Doch was nützen sie den Bedürftigen, wenn sie die Informationen darüber nicht erreichen? Die Betroffenen wissen nichts von Fragebögen und Flyern mit Hinweisen, weil sie selten Zugriff darauf haben. Sie kommen zu den Auslegestellen meist gar nicht erst hin. Nur der Fernseher sei ein wichtiger Multiplikator, ist die Erfahrung der einstigen Seniorenbeauftragten. „Überall läuft tröpfchenweise etwas, aber nichts Gezieltes“, kritisiert die Beharrliche.
Die Berliner CDU hatte im vergangenen Herbst im Abgeordnetenhaus einen Antrag für einen Einsamkeitsbeauftragten gestellt, für dessen Einrichtung 100 000 Euro jährlich erforderlich seien. Demirbüken-Wegner habe im Verlauf der Diskussionen feststellen müssen, dass Einsamkeit als Krankheitsauslöser beziehungsweise -verursacher, weder im Bewusstsein der Medizin noch der Gesellschaft verankert sei. „Ein Beauftragter ändert allein keine gesellschaftlichen oder persönlichen Probleme, aber er kann auf Veränderungen im System hinwirken und einen Umdenkungsprozess beschleunigen“, glaubt sie fest. Die Berliner Sozialpolitikerin Dr. Susanna Kahlefeld (Bündnis 90/Die Grünen): „Ich halte einen Beauftragten nicht für das geeignete Instrument, um dem Problem Einsamkeit zu begegnen. Es ist zu vielschichtig. Einsamkeit kommt vor im Jugendalter, dann hat sie andere Gründe als bei Alten, sie kann Grund für Krankheiten sein.“ Alleinleben könne, müsse aber kein Grund für Einsamkeit sein. Um von politischer Seite wirksam etwas gegen Einsamkeit zu tun, müsse man die Kompetenzen der jeweiligen Experten nutzen. Die Forderung nach einem Einsamkeitsbeauftragten klingt ihr zu einfach: „Die Lösung ist nicht einfach.“
Wie steht Pater Mönch zu einem Einsamkeitsbeauftragten? „Wenn er nur im Büro sitzt, halte ich ihn für nicht sinnvoll.“ Dann finde er weitere Sozialarbeiter besser. Die Bilanz von Elke Schilling stimmt nachdenklich: „Eine Gesellschaft, die den Jugendwahn pflegt, hat keine Wertschätzung für das Alter.“ Außerdem, in einer Gesellschaft, in der immer mehr überlegt werde, wie man die Lebensarbeitszeit verlängern kann, dürfe niemand Schwäche zeigen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als weiter an dem Wunschbild eines Einsamkeitsbeauftragten zu zeichnen.

Von Almut Lüder