Anbetung Verstorbener
Oranten in Katakomben
Foto: Gerhard Reichwein
Marmorne Grabtafel in der Domitilla-Katakombe.
Dürfen wir die Heiligen und auch liebe Verstorbene um ihre Fürsprache bei Gott bitten? Das ist seit der Reformationszeit eine gewichtige Anfrage an die Praxis unseres religiösen Lebens. Wir verehren die Heiligen als leuchtende Vorbilder. Sie sollen uns nachahmenswerte Beispiele sein für das Leben und gegebenenfalls auch Sterben in der Nachfolge Christi. Wir verehren sie, weil sie in der Herrlichkeit des Himmels vor Gottes Angesicht einstimmen in den Lobgesang der Engel. Aber können sie uns auch beistehen, wenn wir sie um Hilfe bitten?
Die Absage der Reformatoren an diese altkirchliche Übung verwehrte uns in Hamburg bei der Ökumenischen St.-Ansgar-Vesper, Fürbitten mit der Antwort „Heiliger Ansgar, bitte für uns!“ zu formulieren. Durch den Begründer dieses Gedenkens an den ersten Bischof von Hamburg, den evangelischen Verwaltungsjuristen Dr. Wilhelm Michaelis konnten dann Bitten an Gott Vater oder an den Herrn Jesus Christus so abgeschlossen werden: „Mit dem heiligen Ansgar rufen wir dich an!“
Eine altkirchliche Übung
Ebenso ist die Verwerfung der Anrufung von Heiligen erkennbar an dem 1457 von Hans Bornemann gemalten Tafelbild des heiligen Ansgar (Original in der Hauptkirche St. Petri), bei dem in reformatorischer Zeit die Bitte des Stifters „Ora pro me beate Pater Anschari – Bitte für mich seliger Vater Ansgar“ übermalt wurde.
Dass die Anrufung der Verstorbenen bereits in frühchristlicher Zeit gelebte Praxis war, konnte ich mit meinem Studienkollegen Gerhard Reichwein aus dem Bistum Limburg in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei unseren Studien in den römischen Katakomben entdecken. In der Domitilla-Katakombe fanden wir eine mit Krampen an der Wand eines Ganges befestigte, stark beschädigte Grabtafel aus Marmor, die zum Verschluss eines Grabes gedient hatte. Der Name des oder der Verstorbenen war leider nicht erhalten. Aber deutlich erkennbar ist der Wunsch: „Vibas in pace et pete pro nobis – du mögest leben in Frieden und bitte für uns!“ Diese Grabtafel, wahrscheinlich aus der Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, ist und bleibt ein deutlicher Beweis, dass Verstorbene um ihren fürsprechenden Beistand angerufen werden können.
So lassen sich auch die Bilder der Verstorbenen in den frühen christlichen Begräbnisstätten deuten, wenn sie auf Grabtafeln oder als Fresken als „Oranten“ dargestellt werden. Mit erhobenen Händen betend, stehen sie, Männer und Frauen, vor Gott, singen sein Lob und danken ihm. Aber sie erheben ihre Hände auch, weil sie fürbittend eintreten für die Hinterbliebenen und die christliche Gemeinde mit ihren Sorgen und Anliegen in der Not.
Grabtafel wurde gestohlen
Leider mussten wir gegen Ende unserer Studienzeit noch erleben, dass die bemerkenswerte Grabtafel mit ihrer Inschrift aus der Katakombe gestohlen wurde. Bis heute ist sie meines Wissens nicht wieder aufgetaucht und ruht wahrscheinlich in irgendeiner Privatsammlung. So bleibt als Zeugnis vorerst nur das Foto, das Gerhard Reichwein vor Jahrzehnten machen konnte.
Zum Autor: Monsignore Wilm Sanders (90) ist emeritierter Domkapitular und Herausgeber zahlreicher Bücher. Er lebt in Hamburg.