Abend zu Missbrauchsfällen in Heidenau
Was Überlebende jetzt brauchen
In der Bistumsleitung war seit vielen Jahren bekannt, dass der damalige Heidenauer Pfarrer Herbert Jungnitsch in den 60er Jahren schwerste sexuelle Gewaltverbrechen an mindestens vier Mädchen im Kindergarten- und Grundschulalter verübt hat. Am Tatort, der Heidenauer St.-Georg-Gemeinde, kam das Geschehene erstmals am 16. September öffentlich zur Sprache. Bischof Heinrich Timmerevers, Generalvikar Andreas Kutschke und Justitiar Stephan von Spies fanden dafür vor rund 80 Zuhörern in der Aula des Pestalozzi-Gymnasiums klare Worte. Von schwerster sexueller Gewalt sprach von Spies, der im Bistum mit der Untersuchung von Missbrauchsfällen betraut ist. Er nannte weitere Details, etwa, dass es mehrere Mittäter aus der Gemeinde gab und dass die Täter ihren Verbrechen durch die Verwendung religiöser Symbole und liturgischer Geräte einen religiösen Anstrich zu geben versuchten.
Als Vertreterin der Betroffenen zeigte sich Christina Meinel dankbar für dieses öffentliche Eingeständnis und für die Einordnung als kriminelle Taten. Schon 2010, als sie sich dem damaligen Bischof Joachim Reinelt anvertraute, hatte sie ihn darum gebeten, die Sexualstraftaten von Pfarrer Jungnitsch bei einem Gemeinde-Besuch in Heidenau klar auf den Tisch zu legen. Immerhin hatte er damals in Tageszeitungs-Veröffentlichungen bestätigt, dass es glaubhafte Missbrauchsvorwürfe gegen den 1971 verstorbenen Heidenauer Priester gibt, und er hatte im Namen des Bistums bei den Betroffenen um Entschuldigung gebeten.
Den Opfern war das zu wenig. Die Presseveröffentlichungen reichten nicht aus, um die Abwehr derer zu überwinden, die sich mit dieser dunklen Seite ihrer Gemeindegschichte nicht beschäftigen wollten – sei es, weil sie selbst nur positive Erfahrungen mit Herbert Jungnitsch gemacht hatten und nun das Bild ihrer heilen Kindheitswelt gefährdet sahen, sei es, weil sie sich nicht mit ihrer eigenen Rolle als Mitwisser auseinandersetzen wollten. Sie säten Zweifel an der Glaubwürdigkeit derer, die sich als Betroffene offenbart hatten, redeten über sie etwa als „verklemmte Frauen, die keinen Mann abbekommen haben“. Manche wiesen das Thema von sich mit dem Hinweis auf die zu wahrende Totenruhe des Geistlichen, der sich ja nicht mehr gegen ehrrührige Anschuldigungen wehren könne.
Auch Mitwisser sollten bei Aufarbeitung helfen
Alle ihr bekannten Opfer seien durch Herbert Jungnitschs Taten ein Leben lang beeinträchtigt, berichtete Christina Meinel. Sie selbst habe zwar nach außen hin ein normales Leben mit Beruf und Familie führen können, innerlich fühlte sie sich jedoch leer, traurig, lebensuntüchtig, voller dunkler Sehnsüchte – ohne zu wissen, woher dies rührte. „Ich habe meine Gefühle eingefroren, um weiterleben zu können, und meine Kinder mussten darunter leiden“, beschreibt sie. Erst vor 20 Jahren hätten Erinnerungen eingesetzt, begleitet von einer großen Müdigkeit und Schwere. Zuerst erinnerte sie sich an Übergriffe des eigenen Vaters, dann an die des Pfarrers.
Zunächst widerstrebend habe sie sich diesen Bildern gestellt und gelernt, damit zu leben. Therapien brächten für sie und die anderen Betroffenen zeitweilig Erleichterung, aber keine Heilung. Christina Meinel verglich ihr Leid mit dem von Bein-Amputierten: Wundbehandlung und Prothesen können ihnen helfen, das Bein bleibt aber lebenslang verloren. Sexuelle Gewalt hinterlasse allerdings Wunden, die nicht sichtbar seien.
Mit dem Auftakt-Gemeindeabend sei ein wichtiger Schritt geschafft, hob Christina Meinel hervor. Nun gelte es, das Geschehene in das Leben in der Gemeinde einzuordnen und dafür Sorge zu tragen, dass Derartiges nicht wieder passiert. Ein sehr schwerer, aber wichtiger Schritt sei es, dass sich auch die Mittäter und Mitwisserinnen ihren Erinnerungen stellten. „Es würde mir Frieden und Genugtuung bringen, wenn Sie dazu stehen“, erklärte sie. Ziel der Betroffenen sei es, dass nach dem erlebten Macht- und Vertrauens-Missbrauch das Gleichgewicht zwischen Opfern und Tätern wieder hergestellt wird, und ebenso das Gleichgewicht zwischen Opfern und Verantwortlichen des Systems. „Wir möchten Ihnen wieder auf Augenhöhe begegnen“, wünschte sie sich von den Anwesenden. Nicht nur im Interesse der Betroffenen sollten sich diejenigen an der Aufarbeitung beteiligen, die sich durch ihr Nicht-Eingreifen mitschuldig gemacht hätten. „Auch für Sie selbst ist es wichtig, sich diesen Erinnerungen zu stellen, wenn sie hochkommen“, ist Christina Meinel überzeugt.
Die nächsten Schritte sollten ihrer Ansicht nach in kleinerem, vertraulicherem Rahmen erfolgen. Es brauche Austauschmöglichkeiten in Kleingruppen, bei denen Opfer und Angehörige Gehör finden. Dabei sollten auch Fragen und Meinungen derer zugelassen sein, die sich mit der Aufarbeitung schwertun.
Generalvikar Andreas Kutschke dankte Christina Meinel für ihren „unverzichtbaren Beitrag zur Aufarbeitung“ und sagte der Gemeinde für die weiteren Schritte die Unterstützung des Bistums zu. „Wer zur weiteren Erhellung beitragen kann, möge sich ein Herz fassen und sich melden!“, appellierte er an die Heidenauer. „Die Kirche muss das aufarbeiten. Bitte gehen Sie diesen Weg mit!“
Die Bistumsleitung hält es für sehr wahrscheinlich, dass es zusätzlich zu den vier bisher namentlich bekannten weitere Opfer gibt. Zudem seien noch nicht alle Männer namentlich bekannt, die den übereinstimmenden Zeugenaussagen zufolge als Zuschauer, Fotografen und Aufpasser an den Taten mitwirkten.
„Anzuerkennen, dass ihr Priester schwerste Verbrechen begangen hat, ist leidvoll für Gemeinden“, räumte der Generalvikar ein, „doch es ist nichts im Vergleich zum Leid der Betroffenen!“ Im Namen des Bistums bat er sie um „Entschuldigung dafür, dass die Ortskirche all dies nicht verhindern konnte.“ Auch Bischof Timmerevers wandte sich mit einer ausdrücklichen Bitte um Entschuldigung an alle Betroffenen. Christina Meinel dankte beiden für die als ehrlich und wohltuend empfundene Geste und fügte hinzu: „Es ist gut, dass Sie zeigen, dass dies Chefsache ist. Sorgen Sie bitte dafür, dass es nicht wieder in den Annalen verschwindet!“
„Von sexualisierter Gewalt Betroffene brauchen Menschen, die ihnen zur Seite stehen und sie nicht als Opfer, sondern als bewunderungswürdige Überlebende wahrnehmen“, bekräftigte Heike Mann, Expertin für Prävention sexuellen Missbrauchs bei der Arbeiterwohlfahrt. Sie bräuchten zudem Institutionen, die ihr Leid anerkennen und sich klar auf ihre Seite stellen, Institutionen, die nach strukturellen Ursachen suchen und daraufhin Veränderungen vornehmen.
Verbrechen sind Teil der eigenen Geschichte
In Heidenau werde es nun darum gehen, die schrecklichen Taten als Teil der Gemeindegeschichte anzuerkennen, sagte Benno Kirtzel, Gemeindereferent der Pfarrei Pirna. Gemeinsam mit Christina Meinel hatte er die Initiative für den Gemeindeabend ergriffen. Die guten Erfahrungen, die Gemeindemitglieder mit dem vielfach als charismatisch und überdurchschnittlich engagiert beschriebenen Priester gemacht haben, dürften bestehen bleiben, findet der Gemeindereferent. Es gelte aber zur Kenntnis zu nehmen, dass dieselbe Gemeinde auch Ort von Verbrechen war. Er habe Verständnis, wenn manche in der Gemeinde jetzt erst einmal nur schwiegen, sagte Kirtzel. „Trotzdem müssen wir in irgendeine Art von Handeln kommen“, betonte er. Ein vorläufiges Präventionskonzept liege bereits vor. Eine Gruppe aus Haupt- und Ehrenamtlichen analysiere gerade, welche Gefahren die Pfarrei für Kinder und Jugendliche berge.
Maßgeblich für alle weiteren Konsequenzen seien die Bedürfnisse der Betroffenen. Man habe sich bereits darauf verständigt, Herbert Jungnitschs Grab nach 50 Jahren einzuebnen. Wie genau dies vonstatten gehen soll, sei eine der noch offenen Fragen. Noch zu klären ist zum Beispiel auch, was mit den ausgehängten Fotos in Gemeinderäumen geschehen soll, etwa mit dem Bild des Priesters inmitten von Erstkommunionkindern.
Am 19. September fand auch in der St. Ludwig-Gemeinde Berlin-Wilmersdorf eine erste Veranstaltung zur Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt statt.
Von Dorothee Wanzek