Interview mit Domkapitular Martin Tenge

Wer leitet künftig?

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Die Zahl der Priester geht weiter zurück, Pfarrer geraten an ihre Belastungsgrenzen, Planungen sind innerhalb kurzer Zeit Makulatur. Wie soll das weitergehen? Dazu äußert sich der Leiter der Hauptabteilung Personal/Seelsorge, Domkapitular Martin Tenge im KiZ-Gespräch.


Domkapitular Martin Tenge leitet die Hauptabteilung Personal/Seelsorge und ist für den Einsatz der Priester und pastoralen Mitarbeiter verantwortlich.

Herr Domkapitular Tenge, wie werden sich die Priesterzahlen im Bistum in diesem Jahrzehnt entwickeln?

Sie werden deutlich sinken. Im Moment haben wir noch starke Jahrgänge von Priestern, aber viele werden bald in Ruhestand gehen. Zugleich fehlt es an Nachwuchs. Das bedeutet, dass wir einfach immer weniger werden.

Das Bistum plant derzeit mit rund 40 Teams im überpfarrlichen Personaleinsatz. Wie lange lassen sich diese Planungen mit dem vorhandenen priesterlichen Personal aufrechterhalten?

Wir haben formal 45 Bereiche für unsere 119 Pfarreien, von denen 40 sogenannte überpfarrliche Bereiche sind, in denen ein Pries­ter mehrere Pfarreien leitet. Wir haben zahlenmäßig im Moment noch mehr Priester, als wir im Stellenplan 2025 vorsehen. Das wird sich aber in den nächsten zwei, drei Jahren schon derart reduzieren, dass wir nicht mehr alle vorgesehenen Stellen besetzen können. Hinzu kommt, dass nicht jeder Priester alles machen kann. Priester sind keine Schachfiguren, die man mal eben von hier nach da schieben kann, sondern sie sind Persönlichkeiten mit Stärken, mit Grenzen, mit Möglichkeiten. Und sie haben natürlich auch Interessen, Neigungen, Fähigkeiten. Mir als Personalchef liegt es daran, die persönlichen Charismen wahrzunehmen und nach Möglichkeit für einen Einsatz zu sorgen, der ihnen gerecht wird. Umgekehrt muss ich immer auch das Gesamte im Blick haben. Und das heißt, dass ich auch dafür sorgen muss, dass es genügend Pfarrer für den überpfarrlichen Personaleinsatz gibt. Oft gibt es eine starke Spannung zwischen den Anforderungen des Systems und den persönlichen Rahmenbedingungen. Den richtigen Pries­ter zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle einzusetzen, gelingt bei weitem nicht immer. Das gilt übrigens auch für andere berufliche Dienste in der Pastoral.

Wenn das System nicht mehr funktioniert, was kommt dann? Noch größere Einheiten?

Das kann ich im Moment nicht prognostizieren. Ich denke, wir sollten nicht nochmal Pfarreien zusammenzulegen. Was wir aber bedenken müssen, ist die Frage: Wer leitet eine Pfarrei? Kann und muss das immer ein Priester sein? Das ist eine sehr grundsätzliche Fragestellung, die auch in anderen Bistümern diskutiert wird. Ich kann jetzt nur das Problem benennen, aber wenig Lösungsoptionen aufzeigen. Vielleicht braucht es auch andere Bilder, was eigentlich die Aufgaben einer Pfarrei und eines Pfarrers sind. Aber das sind sehr grundsätzliche Gedanken, die der Personalchef nicht allein bewegen kann.

Vor mir liegt die Beauftragung eines Pfarrers einer 7000-Seelen-Gemeinde mit der vertretungsweisen Übernahme eines Pastoralbezirks mit vier Gemeinden für die Dauer von viereinhalb Monaten. Kann ein Priester so etwas überhaupt schaffen? Überlasten Sie die Pries­ter nicht hoffnungslos?

Eine Dauerlösung kann das nicht sein, aber in dem vorliegenden Fall geht das für eine Übergangszeit. Solche Phasen sind ja nicht grundsätzlich schlecht. Alle wissen, dass dies nicht der Regelbetrieb ist. In der Zeit der Vakanz muss sich eine Gemeinde noch mal richtig rütteln und sich fragen, wohin sie gehen will, was ihre berechtigten und unberechtigten Erwartungen und was ihre Ziele sind. Wenn Sie das Problem der Überlastung von Priestern generell ansprechen, dann muss man danach fragen, was die Aufgaben eines leitenden Pfarrers sind. Ich glaube, dass er weniger derjenige sein muss, der alles selber macht. Er muss für Kommunikation mit den Beteiligten sorgen. Wir können Gemeinden immer nur im Team von Hauptberuflichen und engagierten Chris­tinnen und Christen vor Ort begleiten. Der Pfarrer ist derjenige, der die meiste Ruhe ausstrahlen muss, der dafür sorgen soll, dass Probleme besprochen und angepackt werden. Und er soll dafür sorgen, dass Energie, die vor Ort durchaus da ist, freigesetzt wird.

Sie sprachen es gerade an: Die Rolle des Priesters hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Priester sollen immer mehr zu Anleitern von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern werden. Ist es das, was Priester eigentlich wollen?  

Das ist die heikle Frage, ob ich Seelsorger oder Manager bin. Viele Priester möchten in erster Linie Seelsorger sein. Der Begriff „Manager“ ist in der Kirche negativ besetzt. Er wird mit Leuten in Zusammenhang gebracht, die nichts mit Menschen zu tun haben, die vom Schreibtisch aus entscheiden, denen es an Nähe mangelt. Nun muss man aber die Funktion eines leitenden Pfarrers betrachten. Er hat die Aufgabe, das Ganze in den Blick zu nehmen, er kann unmöglich alle Hausbesuche oder Beerdigungen selbst übernehmen. Leitende Mitarbeiter müssen für die Leitungsebene da sein. Wenn ein Pfarrer für die Gremien da ist, mit dem Pfarrgemeinderat, dem Kirchenvorstand und dem lokalen Leitungsteam zusammenarbeitet, dann darf sich das nicht anfühlen wie Begegnungen zwischen einem Manager und den lokalen Funktionären. Es braucht ein vertrauensvolles, glaubendes Miteinander im Dienst an den Menschen und an der Seelsorge. Ich bin ein guter Seelsorger, wenn ich den Multiplikatoren helfe, Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß, dass das längst nicht von allen Priestern so gesehen wird. Aber wir brauchen auch Priester, die als Seelsorger leiten können.

Ein Faktor für den Priestermangel ist der Zölibat. Lässt sich diese Lebensform noch durchhalten?

Die Kopplung von eheloser Lebensform und Priesteramt ist nicht dogmatisch begründet, sondern sie ist aus der Geschichte heraus entstanden. Ob sie heute sinnvoll ist oder nicht, kann man sicher fragen. Es ist jetzt erst mal die Ausgangslage. Das Wort Zölibat ist heute auch unter vielen Priestern negativ besetzt. Es gelingt uns im Moment so gut wie gar nicht, die Perspektive des ehelosen Lebens als ein positives Lebenskonzept darzustellen. Gesehen werden heute vor allem die Einschränkungen. Was verloren gegangen ist ist die Sinnhaftigkeit des Zölibats im Sinne von: mein Herz gehört ganz Gott, der mich glücklich macht. Und das bringe ich sogar durch meine Lebensform zum Ausdruck. Ich bin ja geistlich gebunden. Ich bin in Beziehung mit Gott, mit Jesus Christus. Ich habe mein Leben ihm geschenkt, und das ist für mich eine zutiefst positive Lebensperspektive. Dieser Blickwinkel fehlt heute fast völlig.
Tatsächlich ist der Zölibat allerdings nur ein Faktor von mehreren für den Priestermangel. Es gibt christliche Kirchen, die keinen Zölibat haben, und da boomen die Berufungen auch nicht.

Heute gibt es den Zölibat und viele Priester haben sich – so mein Eindruck – irgendwie arrangiert. Sie fahren mit ihrer Haushälterin in den Urlaub, leben in einer Wohngemeinschaft mit einer Frau, oder wohnen unter einem Dach mit ihrer Schwes­ter. Einmal ganz abgesehen vom Thema Sexualität: Ist das die Unabhängigkeit, zu der der Zölibat beitragen sollte?

Ich kann keine Handreichung geben, wie man den Zölibat lebt. Das ist eine hoch individuelle Geschichte. Tatsächlich kann man sagen, dass sich der eine oder andere arrangiert hat.  Jeder Pries­ter muss für sich seine Form finden: Wie lebe ich zölibatär, wie lebe ich diese Spannung von nicht verheiratet sein und Enthaltsamkeit einerseits und der Frage von Beziehungen und Kontakten und nicht einsam sein andererseits.

Ich fände es sehr bereichernd, wenn man sich mal aus der Zölibats-Rechtfertigungsecke herausbegibt und eine neue Solidarität zwischen all den Menschen entwickelt, die auf der Suche sind, wie man es gut mit sich selber aushalten kann ohne zu vereinsamen. Kann man auch mal solidarisch schauen, wie es all den vielen geht, die freiwillig oder unfreiwillig ehelos leben? Letztlich geht es immer um die Frage – übrigens auch für Eheleute –, wie ich tragfähige Beziehungen leben und gestalten kann. Ich finde dieses Thema gerade angesichts der erlebbaren Vereinsamung von Menschen durch Corona besonders aktuell und spannend.

Interview: Matthias Bode