Erinnerungsort Alt-Wahn
Als das Dorf von der Landkarte verschwand
Jede Woche bringen Helene Griesen und Lucia Menke frische Blumen an die Marienklause in Alt-Wahn. Sie pflegen damit auch die Erinnerung an das frühere Dorf, das auf Hitlers Befehl geräumt wurde. Alle Bewohner wurden umgesiedelt.
Alles sauber? Helene Griesen und Lucia Menke schauen sich prüfend um. Der Boden ist gefegt, die Chrysanthemen und Rispenhortensien haben Wasser, die Kerzen vor der Mutter-Gottes-Statue brennen. „Für heute sind wir durch“, sagt Griesen. Jede Woche fährt die 68-jährige Lathenerin mit ihrer Schwägerin zur Marienklause an der Landesstraße 53 zwischen Lathen und Sögel. Seit vier Jahren kümmern sie sich darum, dass in und rund um die Grotte alles ordentlich aussieht.
Nicht nur für die Gäste, die hier ein Licht entzünden oder sich zu einer Rosenkranzandacht treffen. Sondern, weil beide Frauen eine ganz persönliche Beziehung zu der Marienklause haben. Sie steht auf dem Gelände des früheren Dorfes Alt-Wahn, in dem ihre Mutter bzw. Schwiegermutter Helene Menke (geborene Dierkes) bis 1941 lebt. Und das dann auf Befehl von Adolf Hitler dem Erdboden gleichgemacht wird, damit das Naziregime noch mehr Waffen auf einem noch größeren Krupp‘schen Schießplatz testen kann (siehe auch „Zur Sache“). Auch die junge Helene gehört zu den 1000 Alt-Wahnern, die deshalb Haus, Hof, Nachbarn, Freunde verlassen und anderswo neu anfangen müssen.
1921 kommt Helene Dierkes dort auf die Welt. Beide Eltern sterben früh, so dass sie schon als Jugendliche in der Landwirtschaft mithelfen und die jüngeren Geschwister versorgen muss. „Das waren sicher harte Zeiten mit viel Arbeit“, sagt heute ihre Tochter. Und auch wenn ihre Mutter, die 1941 ins nahe Lathen-Wahn umgesiedelt wird, nicht oft über den Verlust der Heimat klagt, ist Griesen sicher, „dass sie sehr darunter gelitten hat. Aber sie hat nie den Mut verloren.“
Vom Dorfleben in Alt-Wahn hat ihre 2009 verstorbene Mutter aber früher gern erzählt: von der lebendigen Gemeinschaft, vom Tanz in der Küche zur Mundharmonika, von Traditionen und Feiern. Ein altes Foto aus jener Zeit hütet die Familie daher wie einen kleinen Schatz: Da gehen acht junge Frauen lachend zum Schützenfest und mittendrin die junge Helene. Gern hätte ihre Tochter mehr gewusst von diesem Leben. „Vielleicht hätten wir früher Fragen stellen sollen.“
Der Vater arbeitete dort als Stellmacher
Von Alt-Wahn kann auch Wilhelm Masbaum (79) viel erzählen, sein Vater hat dort als Stellmacher gearbeitet. Die Erinnerung an das ehemalige Dorf und seine Einwohner wachzuhalten, ist Masbaum seit vielen Jahren ein Herzensanliegen. Unermüdlich hat er sich mit anderen dafür eingesetzt, dass es seit etwa 2006 einen „Erinnerungsort Alt-Wahn“ gibt. Die dafür gegründete Arbeitsgemeinschaft legte Straßen sowie die Fundamente der Kirche frei, stellte Infotafeln auf und richtete einen Rundweg ein. Masbaum selbst bietet Führungen an und drückt jedem Gast gleich den neuen Flyer über Alt-Wahn in die Hand. Und Besucher gibt es reichlich. „Hier stehen immer Autos und Radfahrer“, sagt der Sögeler.
Wie ihnen zeigt Masbaum an diesem Tag Helene Griesen und Lucia Menke gern Einzelheiten – wie die Überreste der 1941 zerstörten Kirche. Aus dem Stand kann der frühere Ingenieur sagen, dass der „Dom des Hümmlings“ mit 37 Metern Länge und 650 Plätzen damals eins der größten Gotteshäuser der Region war. Wie früher stehen Kastanien und Linden um den Grundriss, lassen die Größe der Kirche erahnen.
Mit den beiden Frauen schaut Masbaum sich einige hundert Meter weiter die Hofstelle Nummer 16 an – hier stand das Haus, in dem die Mutter von Helene Griesen aufgewachsen ist. Eine Bank markiert den Standort. An weiteren 50 Hofstellen stehen Findlingsblöcke, Holz- oder Stahlstelen, ebenfalls mit Namen und Jahreszahlen. Von den Gebäuden ist nichts mehr übrig – die Häuser wurden damals abgetragen und die Natur hat die Fläche zurückerobert. Aber Heckenreste und der Baumbestand deuten an, wie weitläufig Alt-Wahn war.
Lucia Menke zieht noch ein Foto aus ihrer Mappe – von dem Hof und ihrer Schwiegermutter als Jugendliche. Ihre Schwägerin sieht ins Grüne hinein. „Ist schon komisch, hier zu stehen und daran zu denken, wie es früher war“, sagt sie nachdenklich.
Petra Diek-Münchow
Das seit 1965 alljährliche „Wahner Treffen“ musste wegen Corona ausfallen. Neuer Termin soll der 19. Juni 2022 sein. Mehr Infos gibt es hier
Zur Sache
Die Geschichte von Wahn im nördlichen Emsland reicht bis in das neunte Jahrhundert. Dramatische Folgen für das Dorf hatte der nahe Schießplatz, den die Firma Krupp 1877 zur Erprobung ihrer Geschütze errichtete. Hitler entschied 1936, dieses Gelände zu vergrößern, Alt-Wahn räumen und 177 Familien umsiedeln zu lassen. Bis März 1943 mussten die Bewohner den Ort verlassen. Sie erhielten neue Hofstellen in umliegenden und entfernten Dörfern. Insgesamt wurden die Wahner auf 67 Stellen verteilt. Nach Einschätzung von Historikern wurden damit auch mögliche Widerstände zerschlagen.