Intendant Anselm Weber im Porträt

Anselm, wie hast Du’s mit der Religion?

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Was haben Theater und Gottesdienst gemeinsam? Ist die Gretchenfrage indiskret? Und wie soll das Schauspiel Frankfurt der Stadt und ihren Menschen dienen? Intendant Anselm Weber stellt sich auch Fragen, die wehtun. Ein Porträt. Von Ruth Lehnen

Anselm Weber, Intendant in Frankfurt. Foto: Birgit Hupfeld

Anselm Weber war vor einiger Zeit in Rom, auf einer Städtereise mit den Kindern, und ist in eine Messe mit dem Papst geraten. Er fand Franziskus sehr beeindruckend, „sehr nah am Menschen“. Die Publikumswirksamkeit des Papstes hat den Theatermann beeindruckt. Doch. Auf einer Skala von 1 bis 10 schon eine 8.

Dabei ist Anselm Weber, Intendant des Schauspiels Frankfurt, stark evangelisch geprägt: „das Kind einer preußisch-protestantischen Berliner Mutter“ sei er, was erstmal nicht gemütlich klingt. In München ist er aufgewachsen und hat das Katholische schon früh beobachten können. Es überrascht ihn immer wieder. Er findet es bemerkenswert, dass die bayrische katholische Kirche sich vom bayrischen Ministerpräsidenten distanziert hat: „So reden wir nicht über Flüchtlinge!“

Und oben auf dem Balkon im Schauspielhaus wächst der Salat

Wie reden über Flüchtlinge? Wie reden über Frankfurt? Wie reden über das „Wir“? Das sind so Fragen, die sich Weber mit seinem Team stellt. Das Schauspiel Frankfurt ist ein Riesenschiff, ein Tanker: Vom Mann an der Garderobe bis zu den Leuten, die fürs Licht sorgen, von der Bühnenbildnerin zu der Frau, die die Perücken knüpft, vom Marketingexperten bis zum Regieassistenten. Von den Schauspielern bis zu den Regisseuren, zu denen Weber selbst gehört. Von denen an der Kasse bis zu denen, die über Millionen entscheiden. Weber ist nicht nur Intendant, sondern auch Geschäftsführer der Städtischen Bühnen und alles in allem für 1200 Leute verantwortlich.

Trotzdem hat sein Zimmer oben im 5. Stock des Schauspielhauses nichts Kapitänhaftes. Einfache Holzstühle um den langen Tisch, und der Intendant schaut gern nach draußen, wo auf einem schmalen Balkon eine Sonnenblume wächst und in den Blumenkästen Salat.

Das Schauspielhaus soll zur „Herzkammer der Stadt“ werden

Ein Mann, der die Pflanzen liebt, „im Moment gerade die Dahlien.“ Doch der höfliche Ton und die ruhige Ausstrahlung dürfen nicht täuschen. „Ich habe im Ruhrgebiet das Malochen gelernt, das Kämpfen. Das stählt.“ So hat er es einmal Journalisten erzählt. Die Essener und Bochumer Theaterjahre, im ständigen Kampf ums Geld, haben ihn gut vorbereitet auf die Aufgabe, die er nun in Frankfurt zu stemmen hat. Weber hat einen Plan. Er will das Schaupiel zur „Herzkammer“ der Stadt machen. Im Dunkel des Zuschauerraums soll sich etwas ereignen in den Menschen: Sie sollen in der Seele berührt werden. Sie sollen sich mit sich selbst auseinandersetzen, mit ihrer Stadt. Das nennt Weber „Selbstvergewisserung der Bürgergesellschaft“.

In der neuen Spielzeit inszeniert er „Furor“, ein Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, in dem ein Politiker auf einen jungen Rechten trifft: Dietmar Bär, bekannt in seiner Rolle als Tatortkommissar aus Köln, spielt den Politiker. Untersuchungsanordnung: Warum und wie gehen demokratische Werte kaputt, warum und wie verschiebt sich die Gesellschaft nach rechts? Anselm Weber nennt das, was er anstoßen will, die „sogenannte Wertediskussion“.
In der deutschsprachigen Erstaufführung kommt „The Nation“ von Eric de Vroedt auf die Bühne, es handelt sich um einen Kriminalfall in Netflix-Serien-Manier. „Konflikte der Gegenwart“, abgepackt in zwei aufeinanderfolgende Theaterabende – wenn er darüber spricht, kommt beim nüchtern auftretenden Weber so etwas wie Begeisterung auf. Er glaubt daran, dass das Theater der Raum ist, Gegenwart abzubilden und Denkprozesse in Gang zu bringen.
Ein Weber-Schlüsselwort ist Gerechtigkeit. Die ist das Thema eines großen Bildungsprojekts des Schaupiels Frankfurt: „All our Futures“ – schwer übersetzbar: Es geht um die vielen „Zukünfte“ der Stadt, die mit fast 200 Jugendlichen aus dem Norden, Osten und Westen der Stadt verhandelt werden.

Hier wollen Weber und sein Team nicht kleckern, sondern klotzen. In einer Großanstrengung bringen sie reiche mit armen Jugendlichen zusammen, solche mit ausländischen Wurzeln mit denen mit Frankfurt-Stammbaum: Alle gemeinsam sollen auf die Bühne.

Den Intendanten regt es auf, dass es in Deutschland keine „offene und ehrliche Frage nach Migration“ gebe und keinen Dialog mit der zweiten Generation der Einwanderer. Er ist überzeugt, dass dieses „Laufenlassen“ sich schwer rächen wird. Dagegen wollten zwar viele etwas tun, es gebe aber kaum Geld dafür.

Deshalb hat der Theatermann Stifter an seine Seite geholt, die Sparkasse, die Polytechnische Gesellschaft zum Beispiel. Vorerst wird die Anstrengung von Pädagogen und Künstlern im Auftrag des Theaters von mehreren Seiten beargwöhnt: Was wollen denn die, fragen sich die Sozialarbeiter, und was soll denn das, fragt sich so mancher Theatermensch. Webers „in der internen Rangordnung ganz oben angesiedeltes Projekt“ für die Jugend ist ein idealistisches Projekt. Es soll die ganze Stadt nach vorn bringen, Selbstbewusstsein stiften und für Gerechtigkeit sorgen. Gleichzeitig sagt Weber: „Damit gewinnt man keinen Blumentopf“. Fast meint man, einen engagierten Kirchenmenschen reden zu hören, der seufzt, weil niemand mehr an das Gute glaubt.

Mit vielen hat Weber inzwischen Kontakt aufgenommen, aber noch kaum mit den Kirchen. Wäre nicht „Gerechtigkeit“ das Stichwort? Da ist sie wieder, die Gretchenfrage aus Johann Wolfgang von Goethes „Faust“: „Wie hast Du’s mit der Religion?“ Für Anselm Weber ist die Frage nach dem Glauben eine Frage nach der persönlichen Entwicklung. Wie war das damals, als er ein junger Mann war mit Lockenschopf, als es die DDR noch gab und er fasziniert war von der Suche nach Frieden („Schwerter zu Pflugscharen!“), von dem, was rüberschwappte aus der Befreiungstheologie, von der Suche nach Gerechtigkeit. 1983 war er in Polen, und in seltsam unklar-nächtlichen Aktionen hat er dort versucht, die Solidarnosc zu unterstützen, die damals illegale Gewerkschaft der Werftarbeiter, die Polens Diktatur stürzen sollten. Für Weber sind das keineswegs jugendliche Faxen, über die er lächeln würde: Es waren Versuche, als richtig Erkanntes und Geglaubtes umzusetzen. Obwohl er sehr geprägt war von religiösen Gestalten, er nennt den evangelischen Pastor Martin Niemöller und den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, trat er mit 18 zügig aus der Kirche aus und bis heute, er ist 55 Jahre alt, nicht mehr ein. Seinen Beitrag an „Kirchensteuern“ zahle er als Spenden, sagt er.

Der Grund für das Zerwürfnis liegt im Leiden. Als Kind und Jugendlicher war Anselm Weber oft krank, hat Monate im Krankenhaus verbracht, es war ungewiss, ob er überleben würde. Er sah seine Freunde sterben. Er empfand die Ungerechtigkeit: Was hatten sie denn getan? Das kranke Kind sei zweifach gestraft, erklärt er: Es ist erstens krank und wird zweitens „als Außenseiter aus der Gruppe geschmissen“. Seit damals steht es zwischen Gott und Anselm Weber 50 zu 50. Nicht, dass er das Wort „Gott“ so einfach in den Mund nähme: „Bis heute bin ich zu keinem Schluss gekommen, wie wir zwei damit umgehen können“, sagt er.

Ähnlichkeiten zwischen Gottesdienst und Theater liegen auf der Hand

Aus dem Protestantismus hat er dieses „hohe Arbeitsethos“ mitgenommen, aus der Großfamilie – sie waren zu vier Kindern und wuchsen mit Cousins und Cousinen auf – die Fähigkeit, sich in die Gruppe einzufügen. Dass jemand seine Pflicht zu tun hat, ist ihm vertraut. Seine Theaterarbeit, könnte man sagen, profitiert von seiner protestantischen Erziehung. Trotzdem ist das Theater ihm keine Ersatzkirche, auch wenn die Ähnlichkeiten zwischen Theater und Kirche auf der Hand liegen. Denn das Theater ist bei allem prägenden Narzissmus von der Kraft des Kollektiven überzeugt. Und dem Gottesdienst wohnt ein starker Moment des Ins-zenierten inne, bei dem Licht und „Kostüme“ eine Rolle spielen. Theater und Gottesdienst setzen auf Empathie, und sie sind beide analoge Räume, von denen es immer weniger gibt: Die Menschen sitzen real zusammen, erleben real etwas gemeinsam.

Mit Norddeutschland ist Anselm Weber verbunden, und Frankfurt mag er auch. Er geht gern am Main lang und gern in den Palmengarten. Für die Museen hat er eine Museumsufercard. Alle urbane Anpassung wird ihn nicht dazu bringen, seine erste Fußballliebe zu verraten, einmal Bayern München, immer Bayern München. Wenn er frustiert ist, was vorkommt, versucht er, die beim Schülerprojekt involvierten Schulleiter zu treffen. Deren Engagement, Idealismus und Zuspruch bauen ihn auf.

Der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier hat Anselm Weber einmal einen „grundsoliden Mann“ genannt – ist das in der kreativen Branche nun Lob oder Tadel? „Für mich ist das gut,“ sagt Weber. Es stehe für Ehrlichkeit, Offenheit, Transparenz. Der Rest sei ihm nicht gar so wichtig. „Ich bin nicht sehr eitel“, sagt er. Ihm glaubt man das.

 

Zur Person: Wieder am Main

Anselm Weber, geboren 1963 in München, war schon 1991 Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt, und 2001 bis 2003 dort Oberspielleiter. Er arbeitet auch als Opernregisseur und brachte 2015 an der Oper Frankfurt die Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ heraus. Nach Stationen in Bonn, Berlin, Hamburg, Essen und Bochum trat er zur Spielzeit 2017/18 die Nachfolge von Oliver Reese als Intendant des Schauspiels Frankfurt an. Weber ist auch Geschäftsführer der Städtischen Bühnen.

2017/18 inszenierte er unter anderem „Das siebte Kreuz“ nach dem Roman von Anna Seghers und unter dem Motto „Stimmen einer Stadt“ drei „Monodramen“. In der neuen Spielzeit inszeniert er „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. In der Diskussion um Sanierung oder Neubau der Städtischen Bühnen hat er sich dafür ausgesprochen, das Theater nicht auszulagern. Weber ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter.

Ruth Lehnen