Bremerin schreibt Buch über Flüchtlingshilfe
Das Fremde verändert auch uns
Die Bremer Theaterfrau, Sozialpädagogin und Supervisorin Katharina Witte hat ein Buch geschrieben für alle, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Sie gibt Tipps, wie Hauptamtliche und Freiwillige zusammenarbeiten können und wie es gelingt, sich dem Fremden zu nähern.
„Alles verstanden?“ Die geflüchteten Jugendlichen im Theaterprojekt nicken eifrig. Dabei ist gar nichts klar. Erst später, durch Vormachen und Vorspielen, begreifen sie, worum es geht. Für Katharina Witte, die dieses Theaterprojekt leitet, ein typisches Beispiel: Geflüchtete sagten oft zu schnell, sie hätten verstanden, auch wenn das nicht der Fall sei. Der Grund liegt auf der Hand: „Sie wollen sich nicht schämen müssen. Das Gleiche gilt übrigens auch für die betreuenden Sozialarbeiter.“
Ihr Herzensanliegen packte Katharina Witte gleich in den Titel ihres Buches vom achtsamen Arbeiten mit geflüchteten Menschen: „Versteh mich nicht zu schnell“. Nicht zu schnell zu verstehen – das bedeutet, nachzufragen. Und: Ärger und Ungeduld ebenso aushalten zu können wie Momente der Beschämung, wenn der Geflüchtete sich bemüht, etwas auf Deutsch zu sagen, und wir verstehen es nicht gleich.
Katharina Witte, 78 Jahre alt, in Hamburg geboren und seit vielen Jahren Bremerin, hat einen Ratgeber geschrieben für alle, die mit geflüchteten Menschen zu tun haben, die ihre Arbeit reflektieren möchten, sich ihre Freude am Engagement erhalten und das Fremde verstehen wollen. Ihre eigenen Erfahrungen fließen in vielen Beispielen mit ein.
Witte absolvierte eine Theaterausbildung (Bühnenbild und Regie), studierte Sozialpädagogik und arbeitete bereits in den 80er Jahren in Tenever, einem sozialen Brennpunkt im Bremer Osten, mit Flüchtlingen. Seit 1994 ist Witte selbstständige Supervisorin. Außerdem leitet sie das Bremer Playback-Theater, eine Form des Improvisationstheaters, das die Geschichten, Gedanken und Empfindungen der Zuschauer spontan als Szene präsentiert.
Hoffnung auf Frieden und Rückkehr in die Heimat
Als Theaterfrau lässt sie sich leiten von ihrer Liebe zu den Menschen. „Mein Herz fließt über, wenn ich mit jungen Geflüchteten arbeite und ihre Begeisterung erlebe“, sagt sie. Witte hat junge Menschen auch schon durch den Asylprozess begleitet und die Vormundschaft für zwei afghanische Jugendliche übernommen. Dabei erlebt sie viel Angst – bei den Geflüchteten und bei den Betreuern: Angst vor dem Unbekannten, Fremden, dem nicht Einschätzbaren, den Verständigungsschwierigkeiten, der Überforderung, vor dem Versagen.
Im Buch macht sie Mut, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen und lädt ein, sich auf die Zerrissenheit geflüchteter Menschen zwischen der Sehnsucht nach dem Heimatland und dem Wunsch nach Integration einzulassen. „Wir, die wir in sicheren Häusern leben, können nur schwer erahnen, was Menschen erleben, deren Bleiberecht über lange Zeit offenbleibt.“
Wenn Katharina Witte bei einem Playback-Theaterauftritt in Übergangswohnheimen die Zuschauer nach ihren Wünschen fragt, äußern fast alle die Hoffnung auf Frieden und Rückkehr in die Heimat. Diese Hoffnung ist langlebig. Viele Palästinenser zum Beispiel, die in den 50er Jahren aus Israel vertrieben wurden, bewahren bis heute die Hausschlüssel ihrer früheren Wohnungen auf.
Ein zweiter Wunsch ist der nach Integration in die deutsche Gesellschaft – verbunden mit dem Bedürfnis, besser Deutsch verstehen und sprechen zu können. „Die Welt ist dunkel, wenn du die Sprache nicht kannst“, zitiert Witte eine Erzählerin bei einem Theaterauftritt. Kinder wünschen sich meistens deutsche Freunde, im Fußballverein zu sein oder mit Barbiepuppen mit anderen Kindern zu spielen. Manchmal stellt sich Katharina Witte vor, sie käme aus einem Dorf in Afghanistan, ohne Schulbildung wie eines ihrer Mündel, unvorbereitet hierhergeschleudert. „Wie fremd alles wäre, beängstigend, feindlich und vollkommen unverständlich.“
Dem Umgang mit dem Fremden widmet sie ein ganzes Buchkapitel. Fremdes wirke besonders fremd, wenn es in unser vertrautes Umfeld eindringe, sagt sie und nennt ein Beispiel: In einer Bremer Kunstausstellung entdeckte sie eine Skulpur, einen Frauenakt mit Kopftuch. Witte war irritiert. Der Akt war ihr vertraut. Aber das muslimische Attribut? „Plötzlich kam das Fremde an mich heran und ich spürte Unbehagen. Wegen des Kopftuches war mir der nackte Körper plötzlich peinlich. Ich betrachtete das mir sonst Vertraute mit anderen Augen.“ Witte ist überzeugt: „Durch den Blick auf das Fremde verändert sich mein Blick auf das Eigene und ich betrachte das Eigene plötzlich wie etwas Fremdes, muss ihm standhalten, es aushalten, bis es wieder zu meinem Eigenen wird.“ Im Alltag heißt das: Wir können uns nur weiterentwickeln, wenn wir uns dem Fremden nähern. Durch Begegnungen werden wir wissender, reicher, erfahrener. Und dennoch: „Ein Stück Fremdheit darf auch bleiben“, betont sie.
„Die Geflüchteten haben uns wach gemacht“
Lange hat Katharina Witte überlegt, ob es der richtige Zeitpunkt für ihr Buch ist. Denn noch ist völlig offen, wie sich die Flüchtlingsarbeit weiterentwickelt, ob sie erfolgreich sein wird, ob die Geflüchteten es schaffen werden, sich zu integrieren, ob wir bereit sind, uns in Richtung einer offenen, transkulturellen Gesellschaft zu verändern. Das wird nur gehen, sagt Witte, wenn wir das individuelle Engagement mit einer politischen Haltung zusammenbringen und Räume schaffen, in denen gemeinsames politisches Bewusstsein entsteht.
„Denn es geht um mehr als um die Flüchtlinge. Es geht um uns, um unser Leben in Europa, um soziale Gerechtigkeit, um ökologische Nachhaltigkeit, um Generationengerechtigkeit. Das alles ist vom Engagement für geflüchtete Menschen nicht zu trennen.“ Gerade in diesem Feld, das noch in Bewegung ist – politisch, sozial, emotional – spricht sie sich dafür aus, Positionen und Gedanken beweglich zu halten, ihnen die Chance zu geben, sich zu verändern. „Die Geflüchteten haben uns wach gemacht für politisches Denken, für Reflexion. Durch sie haben wir die Chance, darüber nachzudenken, was uns wichtig ist.“
Anja Sabel
„Versteh mich nicht zu schnell – achtsames Arbeiten mit geflüchteten Menschen“, Katharina Witte, 19,99 Euro, erhältlich im Buchhandel