Aus dem Leben eines Stadionsprechers

Die Stimme aus dem Freudenhaus

Image
Mann steht vor Stadion und schaut in die Kamera.
Nachweis

Foto: Andreas Hüser

Caption

Frank Herzig vor seinem „Wohnzimmer“ – dem Stadion am Millerntor.

Wenn er redet, schweigen und hören 30 000 Menschen. Frank Herzig ist Stadionsprecher. Sein Einsatzgebiet: Das Stadion am Hamburger Millerntor. Sein Verein: der FC St. Pauli. „St. Pauli ist nicht nur ein Fußballclub, sagt Herzig.„St. Pauli ist eine Haltung.“

„Und jetzt begrüßen wir die Mannschaft unserer Gäste aus Osnabrück!“ Frank Herzig steht mit dem Mikrofon auf dem Spielfeld. Er hört die Stimme aus allen Lautsprechern des Stadions. Es ist seine eigene. Frank Herzig ist 51 Jahre alt und von Beruf Krankenpfleger. Aber wenn St. Pauli zuhause spielt, dann ist er Stadionsprecher – ein Ehrenamt in diesem Verein, der anders ist als andere Fußballklubs. Ein Stadionsprecher hat Einfluss. Er spricht vor 30 000 Menschen. Er könnte Stimmung machen. Er könnte einheizen. Er könnte den Mund voll nehmen wie Aale-Dieter oder Bananen-Fred, die Helden vom Fischmarkt. „Aber das geht hier nicht. Schreien, das ist nicht St. Pauli“, sagt Herzig. Zum Kiezklub gehört das Understatement, auch etwas Selbstironie. „Ich muss als Sprecher präsent sein, aber ich nehme mich zurück. Die Stimmung muss ich nicht machen. Sie ist schon da.“ Und wenn der Stadionsprecher ausgeredet hat, erscheinen die eigenen Spieler auf dem Großbildschirm und stellen sich selber vor – in Gebärdensprache. Auch das ist St. Pauli.

Wie kommt man zu diesem Job, Stadionsprecher am Millerntor? Die Vorgeschichte: Frank Herzig, damals Schüler aus Melle, ging zum Fußballspiel im nahen Osnabrück. Im Stadion erschollen die üblichen Spottgesänge. „Arbeitslose, Arbeitslose!“ brüllten die Osnabrücker den Hamburger Gästen zu. Der St.Pauli-Fanblock konterte:  „Steuerzahler, Steuerzahler!“ Witzig fanden das alle. Aber Frank Herzig war im Herzen getroffen: „Das war mein Humor. Da war es um mich geschehen. Weil mir die Fans bewiesen haben: Ja, es ist ein anderer Fußball möglich.“ Fortan war er St. Pauli-Fan.

Nach der Ausbildung zog er nach Hamburg, bekam einen Job im katholischen Marienkrankenhaus, wo er viele Jahre als Krankenpfleger und Mitarbeitervertreter tätig war. An der Uni studierte Herzig zwischendurch Soziologie. Und soziologische Studien konnte er direkt vor seiner Haustür betreiben. Oder vom Balkon aus. Er wohnte in der Seilerstraße, einer Parallelstraße der Reeperbahn. Also mitten in St. Pauli. „Da siehst du viel, wenn du die Augen offen hältst. Es gibt hier viel Licht, und auch viel Schatten. St. Pauli ist Kiez und Party, dicke Karren, Prostitution. Aber es gibt ja auch die Menschen dazwischen. Alles liegt direkt beieinander. Das klassische  Beispiel ist St. Joseph, Kirche auf der Großen Freiheit – in einer Reihe zwischen den Clubs. Am Sonntagmorgen gehen die einen zur Kirche, die anderen kommen aus der Kneipe.“ In St. Joseph hat er später geheiratet. Den betrunkenen Überlebenden der Nacht ist er begegnet, wenn er mit dem Fahrrad zum Sonntagsdienst ins Krankenhaus gefahren ist.

Frank Herzig will aber nicht nur Zuschauer sein. Heute besitzt er ein Schiff im Hafen, das er selbst instand gesetzt hat. Während des Studiums hat er im St. Pauli-Fanshop gejobbt, hatte eine Dauerkarte für das „Freudenhaus der Liga“ (das Millerntorstadion). Eine Zeitlang hat er sogar selbst beim FC St. Pauli Fußball gespielt – in der achten Mannschaft. Die Welt der Kiezkicker ist klein. So traf Herzig eines Abends in der Kneipe Dagmar Hansen, die Stadionsprecherin. Frank: „Ich find’ das toll, wie du das machst, wenn du auf dem Rasen stehst. Da werde ich neidisch.“ Dagmar: „Dann versuch’s doch mal. Wir brauchen gerade Verstärkung.“ Bei einem Testspiel gegen Stoke City durfte Frank zur Probe antreten. Danach gehörte er zum Sprecherteam. Anfangs hatte er noch Herzklopfen. Heute ist die Aufregung spätestens dann verschwunden, wenn Herzig mit dem Mikro in der Hand auf das Feld geht. „Dann bin ich ganz ruhig und bei mir. Ich weiß: Ich bin hier richtig, an diesem Ort in diesem Moment.“

Ein Leben als St. Pauli Fan, das hinterlässt Spuren an Leib und Seele. Frank Herzig krempelt die Ärmel hoch. Am linken Unterarm prangt – natürlich – der Totenkopf mit den gekreuzten Knochen. Dieses Signet kommt aus der Hausbesetzer-Szene von der Hafenstraße und wurde von dem Punkrocker „Doc Mabuse“ in den 80er Jahren ins Stadion geschleppt. Damals entdeckte das linke Milieu den Verein von nebenan und schmiedete eine ungewöhnliche Allianz mit dem bürgerlichen Fußballsport – eine der historischen Kuriositäten, die nur an diesem Ort möglich sind. 

Auf dem rechten Oberarm hat sich der Stadionsprecher ein Kinderbild tätowieren lassen. Seine Tochter Martha hat es gezeichnet. Es zeigt ein Tor und ein Spielergebnis. Die Gegner heißen HAHSFAU und SANKPAOLI. Das Ergebnis: 0:8. Der Traum einer Sanktpauli-Familie. Für Marthas Vater wurde am 14. April ein anderer Traum wahr. Er beobachtete von der Haupttribühne aus, wie sein Sohn Béla der erste Fan war, der nach dem Schlusspfiff das Spielfeld stürmte. Wieder hieß der Gegner Osnabrück. Die Folge: St. Pauli steigt auf und spielt jetzt in der ersten Liga. 

Gibt es einen Fußballgott? Frank Herzig: „Einige besondere Spieler werden als ,Fußballgott’ gefeiert. Außer nach einem Derbysieg gegen den HSV. Dann sind alle Spieler Fußballgott.“ Dass Fußball religiöse Züge hat, ist für den Sanktpaulianer klar. „Die Menschen finden im Stadion auch Sinn und Trost.“ Er selbst, der sich als gläubigen Christen sieht, will das nicht kommentieren. Denn die vielen Jahre, die vielen Spiele am Millerntor haben ihn eines gelehrt: „Die Wege des Herrn sind unergründlich!“

Andreas Hüser